Zugeben, aushalten, ändern

Typische Wesenszüge der Sexsucht sind die Unehrlichkeit und das innere Gespalten-Sein.

Ich kam zum Beispiel überhaupt nicht damit klar, dass ich meine Frau „eigentlich“ wirklich liebte und trotzdem, wenn sie schlief, Pornografie konsumieren und mich selbst befriedigen musste. Heimlich musste ich jeder Frau hinterher schauen, die mich irgendwie triggerte. So war ich doch nicht, so wollte ich nicht sein – und doch konnte ich der Sucht nichts entgegensetzen, allenfalls zeitlichen Aufschub bekommen. Und auch das wurde immer schwieriger: dem lüsternen Impuls zum Ausagieren folgte immer schneller auch das Ausagieren selbst.

Mit dem Trocken-Werden setzte eine Heilungsentwicklung ein. Indem ich im ersten Schritt zugab, wie es um mich stand, integrierte ich die Krankheit in mein Leben. Ich lernte die dritte Option kennen: Bis zum Trockenwerden gab es nur Ausagieren oder ein Unterdrücken des Ausagierens. Letzteres war nie lange möglich. Die dritte Option, die ich in der Trockenheit erhielt, war das Kapitulieren, das Loslassen. Ich lernte, dass ich meinen Suchtmustern nicht folgen muss; auch wenn es sich anfühlt, als würde ich sterben, wenn ich „es“ nicht tue. Tatsächlich gehe ich durch einen Todesprozess hindurch. Aber nicht „Ich“ sterbe, sondern ein Sucht-Gespenst. Ich starb nicht sondern lernte, die Trigger der Sucht loszulassen und sie an Gott „abzugeben“.

Je weiter die Nüchternheit fortschreitet, um so unverträglicher sind für mich allerdings auch neue Heimlichtuerei, Unehrlichkeit und neues Gespalten-Sein.

Zur Ehrlichkeit gehört auch, radikal anzuerkennen und zuzugeben, wenn die Lüsternheit noch oder wieder aktiv ist. Es ist erforderlich, die dunklen Stellen in meiner Seele auszuleuchten und das Entdeckte auch ans Licht zu bringen: Gegenüber dem Sponsor, Programmfreunden, im Meeting.

Manchmal beobachte ich mich dabei, dass ich wie ein nicht-trockener Sexsüchtiger meinen Kopf hin und her wende, und nach der Möglichkeit geradezu suche, lüsterne Blicke auszusenden und Trigger in mich hineinzuholen.

Dieses Verhalten bedeutet schlicht Ausleben der Sucht. „Aber ich bin doch trocken.“ Ja, äußerlich schon. Aber innerlich bin ich in der Heimlichtuerei, Unehrlichkeit und wieder gespalten. Prompt treten als innere Begleiterscheinung Scham („wenn das die Freunde sehen könnten“), Groll gegen mich selbst („warum kann ich das nicht lassen“) und Verharmlosungstendenzen – also Unehrlichkeit – auf.

Jetzt gilt es gleichzeitig auszuhalten und zu ändern.

Auszuhalten: Die Wahrheit über mich. Nicht die Scham und den Groll durch noch mehr Lüsternheit zu betäuben versuchen! Nicht in gedankliche Rechtfertigungen einsteigen. Alle Rechtfertigungen sind eine Lüge. Die Wahrheit ist: Es ist die Sucht, die aktiv ist. Ich bin ein Sexsüchtiger. Und daraus ergibt sich die nächste Wahrheit: Ich kann nicht „kontrolliert“ lüstern sein. Wenn ich die Lüsternheit nicht loslasse, wenn ich nicht mein „Recht“ aufgebe, doch noch „ein bisschen“ lüstern zu sein, werde ich früher oder später wieder sexuell ausagieren. Denn ich bin bereits zur Dualität „Ausagieren“ – „Unterdrücken“ zurückgekehrt – nur das gerade noch das Unterdrücken gelingt und ich in der Lüge lebe, diesmal werde es dauerhaft gelingen. Deshalb ist jede Rechtfertigung der Lüsternheit ein Angriff auf meine neu gewonnene, so zarte und leicht zerstörbare Integrität. Und meine Integrität ist meine Verbundenheit mit den heilenden Kräften in mir und im Umfeld, ohne die ich in der Sucht sterben würde.

Deshalb zunächst: Die Wirklichkeit ohne Beschönigung aushalten.

Einer meiner derzeitigen Lieblingsautoren, Hans Glaser, drückt diesen Gesichtspunkt in seinem Tagebuch so aus:

Den Mut haben, sich selbst zu sehen, die Abgründe und Gefahren meines Wesens, und aus dieser Einsicht die Hilfen zu suchen. Es geht immer und immer wieder um den Gegensatz: vorgestellter Mensch und wirklicher Mensch. (April 1971)

Dann kann ich etwas ändern: Wenn ich mir mein Verhalten nüchtern anschaue, ohne Beschönigung, dann komme ich aus der Opferrolle heraus. Ich kann ehrlich fragen: Was ist los? Möchte ich das tun? Was suche ich in diesen Blicken, in der Lüsternheit? Wo kann ich das, was ich suche, vielleicht finden? In einer gesunden Art und Weise. Oder gilt es, einfach das Leben „auszuhalten“? Als Süchtiger habe ich dieses Leben immer durch meine innere Chemie manipuliert. Der Lüsternheitskick war meine Droge. Jetzt lebe ich ohne Droge. Das muss ich erst (wieder) lernen.

Durch die Anonymen Sexaholiker habe ich eine große Anzahl an „Werkzeugen“ kennengelernt, um gut in der Wirklichkeit leben zu können. Eines ist übrigens Humor. Denn auch das Sprechen darüber, wie „krank“ ich doch bin, kann selbstgenießerische Züge haben. Nein, ich bin einfach ein ganz normaler Sexsüchtiger auf dem Weg der Genesung. Und im Übrigen ein ganz normaler Mensch. Das ist doch ein Ausgangspunkt für jemanden, der sich immer für besonders schlimm oder besonders großartig gehalten hat, nicht wahr?

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