Zur Welt kommen

Als ich in meiner Sucht war, lebte ich oft wie unter einer Glocke, in einer eigenen Welt. Trotz des ganzen Schmutzes und der Unwürdigkeit hatte ich keine Wahl. Die Sucht ließ mir immer weniger Spielraum. Sie war der Chef, ich nur ein Schein-Selbständiger.

Gleichzeitig erkannte ich auch immer wieder, wie es um mich stand. Das verursachte dann Scham. Wieso lebte ich so? Wieso konnte ich nicht damit aufhören? Ich hielt mich für ein schlechten Menschen. Damals wusste ich noch nicht, dass der Kern meiner Schwierigkeiten eine Krankheit namens Sexsucht war.

Heute ist deshalb für mich einer der zentralen Sätze:

„Ich bin nicht ein schlechter Mensch der gut werden will; ich bin ein kranker Mensch der gesund werden möchte.“

Harvey A.

Das Trockenwerden war dann im buchstäblichen Sinne ein „zur Welt kommen“, eine Geburt.

Diese neue Welt war aber zuerst nicht nur attraktiv. Denn es waren all die Schmerzen da und all das Leid, was ich die ganzen Jahre über mit meiner Lüsternheit betäubt hatte. Ich stand im Licht, aber das, was ich sah, tat mir weh, ängstigte mich, machte mich manchmal verzweifelt und hilflos.

Vielleicht gibt es deshalb so viele Rückfälle, weil es in der ersten Zeit so schwer ist – und diese erste Zeit kann durchaus ein Jahr lang oder länger dauern.

Ich brauchte ein völlig neues Lebenskonzept und ich musste mich in diesem neuen Lebenskonzept verankern, damit die emotionalen Stürme und die Angst mich nicht umhauen und nicht in den Rückfall treiben.

Deshalb geht es am Anfang so sehr um den Tiefpunkt und um die Bereitschaft. Der Tiefpunkt ist das aus dem tiefen Inneren aufsteigende Gefühl: So kann ich nicht weitermachen. Ich bin am Ende. Die Sucht ist der Boss. Ich möchte aufhören, kann es aber nicht.

Und die Bereitschaft bedeutet:

Ich setze meine Trockenheit an die erste Stelle. Nichts ist wichtiger als sie. Sie kommt vor meinem Job, vor meiner Familie, meinen Hobbys, meiner Religion. Wenn ich nicht trocken bleibe, werde ich alle diese Sachen ohnehin verlieren. Weil ich dann in das Dunkel zurückkehre.

Mein Sponsor sagte mir, dass wir die Neuen ermutigen müssen, durchzuhalten. Wir müssen ihn sagen, dass es oft erst schwerer wird, bevor es besser wird. Aber es wird besser, wenn wir durchhalten! Ganz sicher!

Jetzt bin ich zur Welt gekommen. Und ich muss wie ein Kind lernen, in dieser Welt zu leben.

Und ich kann dies wie ein Kind durch Nachahmung tun. Ich habe durch die Gruppen und die Programm-Freunde, mein Sponsor und die in der Literatur festgehaltene Erfahrung eine Grundlage, auf der ich meine Trockenheit aufbaue. Ich muss die Fehler und Irrtümer früherer Generationen von nüchternen Sexaholikern nicht alle selber machen! Ich darf von ihnen lernen.

In der Trockenheit habe ich dann alles gefunden, was ich mir immer gewünscht habe:

  • Ich habe nach mehr als 25 Jahren Single-sein eine Partnerin gefunden und geheiratet. Und jetzt sind wir seit mehreren Jahren verheiratet und wir lieben uns.
  • Ich habe eine Spiritualität gefunden, die mich trägt. Sie ist nichts Statisches, wandelt sich, und passt jeweils zu dem Entwicklungsstand den ich habe.
  • Ich habe eine neue Sicht auf mich und die Welt gefunden; es ist immer noch viel Angst da, aber die Vertrauenskräfte wachsen.

Ich möchte immer mehr zur Welt kommen, mich ganz in mir selber und in meiner Umgebung verankern und wirklich LEBEN!

Als mein Genesungsweg begann, mit der Trockenheit vom Alkohol, da wünschte ich mir ein „normales“ Leben.

Ist mein Leben heute „normal“? Keine Ahnung. Jedenfalls bin ich auf dem Weg, ein Mensch zu werden. Und dabei bleibe ich natürlich ein „Clown im gleichen Bus“.

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