Wie ich gestern die Regierung und meinen Chef auswechselte und eine Prämie für meine Arbeit erhielt

Nichts von alledem hatte ich getan. Ich erhielt auch keine Prämie. Ich stellte stattdessen fest, dass ich auf der Arbeit eine Aufgabe vergessen hatte, die ich schon vor einer Woche hätte lösen sollen.

Aber ich hatte das alles doch getan. In meinem Kopf. In meinem Kopf hatte ich angeklagt, bloßgestellt und ausgewechselt und dann auch noch meine Arbeit erledigt – die aber in Wahrheit in Stapeln auf dem Schreibtisch lag.

Wie es in unserer Literatur immer und immer wieder gesagt wird: Der Sexaholiker lebt die meiste Zeit in seinem Kopf und nicht in der Wirklichkeit. Er lebt in seiner Phantasie und in seinen Tagträumen.

Gestern Abend wurde mir dann meine Situation bewusst und mir fiel ein Satz meines Sponsors dazu ein:

Je mehr ich im Denken und in meinem Kopf bin, um so weniger bin ich in meiner Gelassenheit.

Und ich ließ los. Ich betete: „Gott, bitte hilf mir, dass ich all diese Gedanken loslassen kann.“ Es ist mit solchen Phantasien nicht anders, als mit der Lüsternheit. Um von ihnen frei zu werden, muss ich sie jedes Mal loslassen, wenn sie aufkommen.

Ich weiß, dass mein Wohlbefinden davon abhängt, dass ich im Heute bleibe. Im Jetzt. Das Allermeiste im Leben muss nicht extra „gedacht“ werden. Denken ist sinnvoll, wenn ich eine Aufgabe löse, einen Text schreibe oder etwas plane. Sobald das Denken aber eine innere Inszenierung wird, ohne Bezug zur Wirklichkeit, desto schlechter geht es mir.

Als Kind waren reale Erlebnisse für mich so bedrohlich und aussichtslos, dass ich eine Tür hinaus brauchte in eine Innenwelt, in die ich fliehen konnte. In dieser Innenwelt brauchte ich nichts zu befürchten. Außen konnte mir keiner helfen.

Diese Fluchtwelt wurde dann gepolstert mit Alkohol, Lüsternheit und mit Phantasien. Hin und wieder schaute ich mir die wirkliche Welt an (das funktionierte nur sehr schlecht, denn Angst, Sucht und Lüsternheit beschädigen die Wahrnehmungsfähigkeit; schließlich zerstören sie sie). Aber durch meine Angst und das ständige Gefühl des Bedrohtseins konnte ich es in dieser Wirklichkeit nicht aushalten.

Das Problem der Genesung von der Sucht liegt nicht im Entzug. Der kann hart sein, geht aber vorbei. Das Problem liegt darin, nüchtern lebensfähig zu werden. Dies ist ein spirituelles Problem, wenn man mit den Anonymen Sexaholikern unter „spirituell“ das versteht, was den innersten Kern meiner Persönlichkeit ausmacht. Dieser innere Kern sollte ein Ort der Klarheit, Wachheit und Liebe sein. Bei mir war er ein Gefängnis aus Angst, Anspannung und Sorge – und weil so niemand leben kann, habe ich mir meine Suchtmittel als Schmerzstiller besorgt.

Ich habe bei den Anonymen Alkoholiker einen Spruch gehört, der die Situation gut beschreibt:

Die gute Nachricht ist: Wenn du mit dem Trinken aufhörst, kommen die Gefühle wieder. Die schlechte ist: Alle Gefühle kommen wieder.

Daher berührt die Genesung den Kern meiner Persönlichkeit. Der muss sich wandeln. Das Zwölf-Schritte-Programm ist das Mittel hierfür. Ich werde nur glücklich und zufrieden leben können, wenn ich in der Wirklichkeit bleiben kann. Es gibt Wege zum Umgang mit dem unvermeidbaren Schmerz. Und wenn der Schmerz weicht, dann sind da: Klarheit, Weite, Luft zum Atmen – und Freude.

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