Weihnachten: Vom Sex-Livechat zu einem neuen Leben

Ich habe in mir Erinnerungsbilder und Sequenzen, die für mich gefährlich sind. Sie steigen verstärkt in der Vorweihnachtszeit in mir auf.

Weihnachten war für mich das Fest mehrtägigen Alkohol-Trinkens und mehrtägiger Lüsternheit. Ich erinnere mich an einen Heiligabend, an dem ich mich darauf freute, in meine Wohnung zurückzukommen, um einen Sex-Livechat im Internet aufsuchen zu können. Diese Möglichkeit hatte ich gerade neu entdeckt. Da waren dann in wenigen Minuten zig Euro verbraucht. Damit war damals eine weitere Grenze, die ich mir gesetzt hatte („Niemals Geld dafür im Internet ausgeben“), überschritten. Und hinter einmal überschrittene Grenzen kam ich nie wieder dauerhaft zurück.

Es ist eine Spezialität der Sexsucht, dass gerade auch Handlungen und Bilder, die man bei klarem Verstand und Herzen niemals aufsuchen würde, in der Sucht selbst besonders „anziehend“ sind. das Buch „Anonyme Sexaholiker“ beschreibt dies mit den Worten:

Wir waren süchtig nach Arglist, Kitzel und Verbotenem.

Und dieser Sog des Arglistigen, Kitzels und Verbotenen wird sofort wieder aktiv, wenn ich mich den alten Erinnerungsbildern überlasse. Deshalb gilt bei der Sex- und Pornografie-Sucht uneingeschränkt das, was auch für die Alkoholsucht gilt:

Ich werde vom ersten Glas betrunken, nicht erst vom letzten.

Und diese ersten Gläser sind in mir! Ich muss nicht erst zum Kiosk oder zur Tankstelle gehen, um mir meinen „Stoff“ zu besorgen, sondern der Stoff ist in mir.

In dem Buch „Anonyme Alkoholiker“ wird die körperliche Seite der Sucht so beschrieben, dass das erste Glas Alkohol ein körperlich eingeprägtes, süchtiges Verlangen auslöst, das dazu führt, dass ich mich anschließend weiter betrinken muss – auch wenn ich vorher noch so sehr vorgehabt habe, mein Trinken zu kontrollieren. Das ist die entsetzliche Talfahrt auch des Sexaholikers: Es reicht, an den Bildern und Filmsequenzen in mir zu „nippen“; der Sog würde mich innerhalb kürzester Zeit wieder dazu bringen, mich mit Lüsternheit zu besaufen. Und weil Lüsternheit auf nichts Rücksicht nimmt und nur ein Ziel – noch mehr Lüsternheit – kennt, vergiftet sich der Sexsüchtige innerlich mehr und mehr bei äußerlich vielleicht noch völlig intakter Hülle und Fassade.

Ich habe mir damals immer eingeredet, es gäbe ja auch noch viele Bereiche in meinem Leben, die nicht von der Sucht eingenommen seien. Dabei konnte ich zum Schluss in keine Straßenbahn mehr einsteigen, ohne sofort alles danach abzuchecken, ob es irgendwo etwas geben könnte, was meine Lüsternheit füttert.


Ich schreibe, weil Schreiben für mich Leben bedeutet. Meine Geschichten sind für mich wie ein schützendes Amulett. Sie stellen einen Genesungsraum her, in dem ich ohne Suchtmittel Leben kann.

Eigentlich ist der Gegner übermächtig, die schützenden Wälle sind längst geschliffen, der Gegner reitet wie in einer Sage in die gefallene Burg ein: Ein übermächtig wirkender, dunkler Ritter auf einem gewaltigen Pferd. Eigentlich wäre ich verloren, bestenfalls noch Sklave. Aber keine Hoffnung.

Aber trotzdem hat diese unbesiegbare Macht keine Gewalt mehr über mich. Ich darf leben! Das ist nichts selbst Erwirktes – es ist ein tägliches Geschenk der Schutzmächte, die wirken können, wenn ich vom Kampf und den magischen Zeichen der Gegenmächte zurücktrete, loslasse.

Da sind vielleicht die Bilder, die Sequenzen, der Sog. Ich muss ihnen aber nicht mehr folgen. Ich darf trocken sein, frei.

Das beschreibt eine Zeile des 23. Psalms, in der es heißt:

Im Angesicht meiner Feinde deckst du den Tisch vor mich hin

Ist das nicht ein großartiges (Weihnachts-) Geschenk? Ich muss nicht mehr weglaufen, nicht mehr kämpfen. Der Tisch für das Festmahl des Lebens ist gedeckt. Im Angesicht meiner Feinde! Das heißt: Die Sucht ist da. Aber sie hat in der Schutzzone der Höheren Kräfte keine Macht. Ich muss vor nichts mehr erschrecken und brauche mich vor nichts mehr ängstigen. Nur Loslassen und Gott überlassen.


Der 23. Psalm

Der Herr ist mein Hirte,
Es wird mir nichts mangeln.
Auf frischem Grün lässt er mich ruhn.
Zum Lebensstrom führt er mich hin.
Meine Seele läßt er genesen.
Den Weg der Wahrhaftigkeit läßt er mich wandeln,
In seines Wesens waltender Kraft.

Und ob ich auch ginge
im Abgrund der finsteren Todesschatten,
Fürchte ich nimmer des Bösen Gefahr.
Denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab sind mir Stütze und Trost.

Im Angesicht meiner Feinde deckst du den Tisch vor mich hin.
Mein Haupt salbst du mit Öl.
Meinen Becher schenkest Du mir voll.

Ja, schenkende Güte, sie trägt mich all mein Leben.
Und im Hause des Herrn,
Der das Ich in mir spricht,
Will auf immer ich ruhn.

(nach der Übersetzung von Hermann Beckh)

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