Während des Lockdowns war ich froh, dass die von mir regelmäßig besuchten AS-Meetings als Telefonmeetings weitergeführt wurden. Das Ganze hatte sogar einen Vorteil: Da viele Gruppen Telefon- oder Videomeetings eröffneten, war es möglich, an Meetings in anderen Städten teilzunehmen.
Mir fiel allerdings damals schon auf, dass ich in den Telefonmeetings schneller gereizt reagierte, als in persönlichen Meetings. Ich geriet auch schneller in eine verurteilende Haltung anderen gegenüber.
Nachdem dann die persönlichen Meetings wieder möglich wurden, habe ich gemerkt, wie sehr ich die persönliche Begegnung vermisst hatte! Es ist so gut, die anderen „echt“ zu hören, zu sehen und zu spüren. In der realen Begegnung und Gemeinschaft kann leichter das entstehen, was in der Langform der fünften Tradition als „spiritual entity“ bezeichnet wird:
Each Alcoholics Anonymous group ought to be a spiritual entity having but one primary purpose—that of carrying its message to the alcoholic who still suffers.
Alcoholics Anonymous, p. 563 (die Texte der Anonymen Alkoholiker werden auch von AS herangezogen)
Die Gruppe soll also eine spirituelle Einheit, eine spirituelle Gemeinschaft sein. Etwas Eigenes, mit einem eigenen Wesen. Dort können die Wunder der Genesung geschehen. Ja, der Bildschirm oder das Telefon können als Ergänzung Gutes bewirken. Aber nicht als Ersatz. (In der deutschen Übersetzung kommt das Wort „entity“ nicht mehr so zum Ausdruck: „Jede Gruppe der Anonymen Alkoholiker sollte bestrebt sein, in spiritueller Übereinstimmung nur ein Haupt-ziel zu haben, die Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben, die noch leiden.“)
Und obwohl mir das Umarmen früher in der Regel ein Graus war, vermisse ich jetzt sogar die Umarmungen! In einem der letzten Meetings war ein Freund aus einer anderen Stadt zu Gast. Als ich hereinkam und ihn grüßte – und ihm so gerne wenigstens die Hand gegeben hätte – stand er auf, zog seine Maske an – und nahm mich in den Arm! Wie schön war das!
Auch als wir neulich in länderübergreifenden Telefonkonferenzen über die Möglichkeit internationaler Treffen mit den Nachbarländern sprachen, spürte ich diese Wunde fehlender persönlicher Begegnung. Tatsächlich zeigt ja auch die aktuelle Ausweisung sog. Risikogebiete, dass solche Treffen zur Zeit nicht sinnvoll organisiert werden können. Die Befürchtung, dass es sich so entwickeln könnte, lag auf der Hand, und deshalb war ich während der Gespräche bedrückt, obwohl es so schön war, die Freunde aus Belgien, den Niederlanden, Polen etc. zu hören.
Nach einiger Zeit, in der wieder persönliche Meetings stattfinden, kann ich für mich feststellen: Persönliche Meetings sind durch nichts zu ersetzen! Sie sind die Nahrung, die den Einzelnen und die Gemeinschaft stärkt und die Nüchternheit und die Genesung fördert!
Auch wenn Telefon- und Videokonferenzen für Einzelne ohne Gruppe, meetinglose Regionen und gelegentliche Sprechermeetings nützlich sind, sollten wir aufpassen: Gäbe es einen Trend zu diesen Meetings, könnten wir in die Vereinzelung und Isolation getrieben werden.
Es könnte eine „Gemeinschafts-Illusion“ entstehen, wie bei dem Schüler, der auf Facebook viele, in der Realität aber keinen echten Freund hat. Und wer möchte schon z.B. ein schamvolles Geheimnis, was endlich befreiend ausgesprochen werden will, in einen elektronischen Bildschirm sprechen? Die erste Priorität sollte in der Gründung und Pflege von persönlichen Meetings und „echten“ Treffen liegen!
Nach dem Lockdown sind einige Freunde nicht wieder oder noch nicht regelmäßig in die Meetings zurückgekehrt. Eine erneute Verhinderung persönlicher Treffen könnte den realen Gruppen schwere Schäden zufügen. Dies sollten wir versuchen, zu verhindern. Und falls es wieder zu einem (regionalen) Lockdown kommen sollte, wäre zu überlegen, ob wir uns diesmal in kleinen Gruppen privat weiter treffen und von dort aus dann zusätzlich die elektronische Vernetzung suchen. Ich habe gehört, dass dies in einigen Städten und in anderen Ländern so gehandhabt wurde.