In „Zwölf Schritte und zwölf Traditionen“ gibt es die Geschichte der AA-Gruppe Middletown, die ein Riesen-Projekt für die Genesung von Alkoholikern aufzieht. Auf drei Etagen gibt es alles von einem Club über eine Krankenstation bis zu einer Bildungseinrichtung. Man wollte es besonders gut machen und groß aufziehen. Man schuf schließlich 61 Regeln, um einen sicheren und geordneten Ablauf zu gewährleisten.
Das Projekt scheiterte, aber der Initiator des Ganzen biss sich nicht in Groll fest, sondern druckte eine kleine Karte, die er an das AA-Dienstbüro in New York schickte. Auf der einen Seite stand: „Middletown Gruppe Nr. 1 – Vorschrift 62“ und auf der Rückseite „Nimm dich doch nicht so verdammt wichtig!“ (Die vollständige Geschichte findet sich in: Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen, Die vierte Tradition, S. 141 ff.)
Demütig über sich lachen können – und weiter voranschreiten. Hört sich gut an. Aber wie macht man das: Sich nicht so wichtig zu nehmen?
Als ich zu AA kam und vom Alkohol trocken wurde, da verletzte mich der Slogan geradezu. Ich war in meiner Jugend sexuell missbraucht worden, ich war in meiner Kindheit Zeuge von Gewalt und Demütigung, ich wurde süchtig, und jetzt, endlich trocken, da sollte ich mich nicht so wichtig nehmen? Haben die sie noch alle? Die haben leicht reden, dachte ich.
Tatsächlich – manche Slogans können verletzte Menschen verletzen, wenn sie nicht erklärt werden. Später hörte ich den Begriff „traumasensible Schrittearbeit“: Das bedeutet, Gespür dafür zu entwickeln, dass traumatisierte Menschen auf manche Dinge mit starken, negativen Gefühlen reagieren und Zeit, Rücksichtnahme und Mitgefühl benötigen.
Dieses „mich zu wichtig nehmen“ hängt zusammen mit Angst, Kontrollwünschen, Selbstüberschätzung und unvernünftigen Forderungen an andere und an das Leben. Die von mir erlittenen Situationen haben sich tief eingeprägt, bis ins Leibliche. Ich lebte viele Jahe in ständiger Alarmbereitschaft. Ich hatte das Gefühl, immer mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Da wollte ich auf der Hut sein. Meine Suchtmittel Alkohol und Lüsternheit „erlösten“ mich zeitweise aus diesem Spannungszustand oder verstärkten ihn umgekehrt so zu einem Kitzel, dass ich meine ständige Last nicht mehr spüren musste. Zu einem hohen Preis.
Als ich dann trocken wurde, hatte ich diesen Fluchtweg nicht mehr. Ich war ständig mit mir selbst beschäftigt. Ich nahm mich also extrem wichtig und hatte keine Ahnung, wie ich mit dieser ständigen Anspannung klarkommen könnte.
Hier kommen die Schritte ins Spiel. Um mich nicht so wichtig nehmen zu müssen, musste ich erst einmal lernen, dass ich loslassen kann. All die Angst, den Stress, die Forderungen, die Kontrollwünsche: Ich kann sie loslassen und sie Gott, wie ich Gott verstehe, überlassen.
Damit begann ich in den Schritten 1 bis 3.
Ich erkannte die Auswegslosigkeit meiner Situation und meine Machtlosigkeit, und erzählte alles einem Programmfreund (Schritt 1). Jetzt war ich seelisch so offen und „wund“, dass ich dringend die Hoffnung brauchte, dass es eine Lösung geben könnte: Gesundung und ein normales Leben ohne Alkohol und Lüsternheit. Diese Hoffnung bekam ich in den Meeting. Ich sah Freunde, die es mit dem Schritteprogramm geschafft hatten, sich ein nüchternes Leben aufzubauen (Schritt 2). Ich traf eine Entscheidung: Ich würde mich dieser Kraft, die das ermöglicht, anvertrauen. Ich würde ein neues Leben riskieren. Ich ließ meine Schutzschilde herunter (Schritt 3).
Ich glaubte es noch nicht, aber ich hielt es auch nicht mehr für unmöglich: Könnte ich wirklich die Kontrolle aufgeben und loslassen? War für mich gesorgt? Wenn mich eine Höhere Macht, wie auch immer sie aussieht oder nicht aussieht, für wichtig hielt – so wichtig, dass sie mich trocken hielt – dann musste ich mich selber nicht mehr so wichtig nehmen. Ichatmete nach vielen Jahren die ersten Male bewusst durch. Ich gab Vorschussvertrauen und ließ los.
So begann der Weg in eine neue Freiheit und zu einer neuen Lebensfreude. Seitdem ich mich freier fühle, bin ich auch frei, den Griff zu lockern, den ich früher auf alles legen musste. Und wenn es mal nicht klappt und schiefgeht, dann kann ich Inventur schreiben und anschließend auch über mich lachen. Ein nicht verletzendes, liebevolles Lachen. Ich muss mich nicht mehr so wichtig nehmen. Das Leben ist gar nicht so feindlich, wie es mir lange erschien. Ich sage ja zum Leben.