Mitte April stand in meinem Tagesplan:
Mein Wunsch für diese Woche:
Dass ich die Grollpille nicht noch einmal nehmen muss.
(An dem Tag hatte ich eine starke Dosis und einen ebenso starken Kater davon.)
Was ist diese Grollpille?
Das läuft so ab: Ich denke an etwas, was mich ärgert, ängstigt oder sonst wie aufregt (z.B. an den Bezirkspolizisten, der den Radfahrern auflauert, die langsam über Bürgersteig und Zebrastreifen fahren). So ein Grollgedanke reicht manchmal schon, um eine erste Injektion, einen „Schuss“ des Grolls in meinen Körper und in meine Gefühlswelt zu setzen.
Was sind das eigentlich für Gedanken? Ich habe den Eindruck, meine Krankheit erzeugt sie. Je mehr Positivität, Dankbarkeit und Freude ich in mir habe, um so seltener passiert das. Aber auch dann kommt es vor. Dieser „erste“ Grollgedanke ist Teil meiner Krankheit. Ich akzeptiere, dass er da ist.
Aber jetzt ist der entscheidende Moment, ein Wendepunkt: Greife ich den Gedanken auf und spinne ihn weiter, oder kapituliere ich ihn, lasse ihn los? In der Vergangenheit habe ich solche Gedanken oft aufgegriffen und einen Film daraus gemacht.
Ich male mir dann z.B. aus, wie ich Beteiligter der Szene bin oder wie ich mich einmische. Die Phantasie kann viele Richtungen nehmen, bis hin zu einem gewalttätigen Verhalten meinerseits oder einem anderen, aufregenden, aufpeitschenden, „grandiosen“ Ende.
Wenn ich die Gedanken so zum Film mache, dann tritt die Wirkung der Grollpille oder Grollinjektion vollständig ein. Dazu ist meistens noch eine Angstpille sowie ein zusätzliches Aufputschmittel gekommen, und dieser Phantasie-Giftcocktail hat mich durchgeschüttelt und hinterlässt, wie jede süchtig konsumierte Droge, einen Kater.
Und ich weiß, dass ich diese Grollanfälle nicht verharmlosen darf. Sie führen über kurz oder lang in körperliche Schwierigkeiten (Verspannungen, Rückenschmerzen, Herzklabaster, Schlaganfall) und auch zum Rückfall in die Sucht. Dazu gibt es zwei sehr passende Slogans der Anonymen Alkoholiker:
Stinking thinking leads to drinking (kaum übersetzbar, vielleicht: Fangen die Gedanken an zu stinken, führt das irgendwann zum Trinken).
Poor me, poor me, pour me a drink. – Ich Armer, ich Armer, schenk‘ mir einen ein.
Was versuche ich zu tun, wenn ein Grollgedanke auftaucht?
Dem ersten Gedanken als solchem bin ich tatsächlich oft gegenüber machtlos. Da kommt beispielsweise der Gedanke an den Polizisten.
Jetzt ist der wichtigste Moment da! Ein Wendepunkt, nicht weiter diese Richtung einzuschlagen. Ich muss den Gedanken loslassen! Wie ich das erste lüsterne Bild loslassen! Nicht „trinken“, nicht die Droge einnehmen!
Mir helfen Gebete oder Affirmationen. Die zwei wichtigsten Sätze bei Grollgedanken sind derzeit für mich:
Gott, bitte hilf mir!
Gott, was immer ich in diesem Grollgedanken suche, bitte lass‘ es mich in Dir jetzt finden!
Und dann stelle ich mir auch tatsächlich die Frage: Was suche ich eigentlich gerade in Wirklichkeit? Eine Fluchtmöglichkeit vor Stress, unangenehmen Entscheidungen, dem Alltag? Habe ich die HALT-Regel eingehalten? Bei wiederkehrenden Gedanken ist auch eine Inventur wichtig.
Vielleicht stelle ich fest, dass ich die Grollpille bevorzugt in ganz bestimmten Angst- oder Unsicherheitssituationen als Fluchtmittel einnehme. Oder wenn ich Hunger habe. Oder Durst. Oder das ich mein Verhältnis zu einer Person oder Situation klären muss.
In den vergangenen Tagen habe ich oft auf meinen Wochenwunsch geschaut, die Grollpille nicht nehmen zu müssen. Und ich habe Grollgedanken tatsächlich oft kapitulieren, also loslassen können, wenn er auftauchte.
Manchmal kapituliere ich nicht. – Ich bin unaufmerksam. Es geht mir nicht gut. Ich möchte diese Fluchtpille nehmen. – Wenn das passiert, gehe ich anschließend rücksichtsvoll mit mir um. Ich tröste mich (nur keine Selbstverurteilung, die macht es nur schlimmer!). Ich versuche herauszufinden, was los ist (Inventur, Gespräch mit dem Sponsor oder Freunden). Und ich hoffe und bete, beim nächsten Mal von meiner Höheren Kraft die Kraft zu bekommen, loszulassen.
Damit ich glücklich, voller Lebensfreude und frei leben kann.
Wer möchte wirklich ein Leben im „Trockenrausch“ führen, wenn er oder sie stattdessen die volle Freiheit eines Lebens in Kapitulation haben kann.
„Halbe Sachen nützten uns gar nichts.
Die Genesung schreitet fort, Seite 31