„Und wenn die Liebe einfach die Freude am anderen wäre?“

Vor rund 30 Jahren entdeckte ich zum ersten Mal den Schriftsteller Peter Handke. Seine Sprache hatte eine magische, beruhigende Wirkung auf mich, die ich spürte, als ich den Anfang der Erzählung „Versuch über die Jukebox“ las. (Von einer Freundin erlebte ich dann eine Reaktion, die mir half, zu begreifen, dass Literaturgeschmack etwas sehr Persönliches ist. Begeistert schenkte ich ihr dieses Buch. Wenig später sagte sie mir: „Mir hat in meinem ganzen Leben noch nie jemand ein so langweiliges Buch geschenkt.“)

Vor Kurzem begann ich, in Handkes Journal „Gestern unterwegs, Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990“ zu lesen. Neben dem besonderen Rhythmus der Sprache und Handkes Fähigkeit einer genauen Beschreibung dessen, was er sieht, war ich verblüfft, in vielen der Aufzeichnungen Beobachtungen und Erfahrungen zu finden, wie ich sie aus meiner Biographie und dem Zwölf-Schritte-Programm kenne.

Es ist merkwürdig, man kann nicht sagen, Handke „erklärt“ etwas; aber das, was er schreibt, klärt oft in einem oder wenigen Sätzen etwas auf. Die Aufzeichnungen lösen bei mir den Impuls aus, über sie zu schreiben.

Da ist zum Beispiel der Satz, der in der Überschrift zitiert wird.

Und wenn die Liebe einfach die Freude am anderen wäre?

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 427

Im Buch „Anonyme Alkoholiker“ ist verschiedentlich von der Liebe die Rede, zum Beispiel:

Unsere Parole heißt jetzt Liebe und Toleranz.

Seite 98 (zum zehnten Schritt)

Was heißt denn Liebe? Wann liebe ich die Freunde im Meeting? Was bedeutet, meine Frau zu lieben?

Da sprach mich der Satz von Handke direkt an. Ich schaue meine Frau an, ich sehe, mit zugewandtem Blick, die Freunde im Meeting: Und ich habe Freude an ihnen. Freude ist ein Kernbegriff der Genesung.

Wir sind uns sicher, dass Gott möchte, dass wir glücklich, voller Lebensfreude und frei sind.

Alcoholics Anoymous, p. 133 („We are sure Gods wants us to be happy, joyous, and free.“)

Noch zu einigen weiteren Zitate aus „Gestern unterwegs“:

Zu den paar Erleuchtungen, die ich gehabt habe, gehört, neben der Langsamkeit und dem „Zeit genug!“, auch das: „Einen jeden mit seiner Sache, in seinem Raum, vor seinem Hintergrund (siehe Nova in „Über die Dörfer“) sehen“ (1. April, Ronda)

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 385

Ich kenne den Kontext des Zitates nicht. „Über die Dörfer“ habe ich nicht gelesen. Was ich aber kenne, ist die größer werdende Scheu, irgendein Urteil über jemanden anders zu sprechen, sein Verhalten zu bewerten – denn dieses „mit seiner Sache, in seinem Raum, vor seinem Hintergrund“ beschreibt, dass das Lebensgefühl und die Wahrnehmung des Anderen ganz verschieden von meinen sein können (können sie überhaupt „nicht verschieden“ sein?). Wenn der Andere mir etwas beschreibt – weiß ich dann wirklich, welche inneren Bilder und welche Gefühle dem Beschriebenen zugrunde liegen? Wie diese, die er in Worte fasst, in seiner Wahrnehmung sind?

Deshalb ist die Achtung vor dem Anderen so wichtig, denn sonst sehe ich in ihm nicht ihn, sondern alleine mich („Wir sehen die Menschen nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.“ Anthony de Mello). So wichtig die wechselseitige Identifikation für den gemeinsamen Genesungsweg ist, so sehr bleibt der andere ein eigener Kosmos.


Den meisten scheint die Unreinheit ihres Blicks nichts auszumachen. Sie starren, stieren, äugen, glotzen, fixieren, messen, urteilen weiter. Wird mein Blick hingegen unrein – nimmt er nicht einfach selbstlos teil -, wird er fahrig, voll schlechten Gewissens, schuldbewusst

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 396

Der unreine Blick, das ist der lüsterne Blick. Das ist aber nicht nur der auf sexuell aufladbare Körperbereiche gerichtete Blick. Es ist jeder Blick, der das Erblickte zum eigenen Benutzen hereinholt. Um es zu „verwenden“: Für Erregung oder Aufregung, für Be- und Verurteilung, für ein Sich-Überheben.

In einem Gesprächsband mit Ivan Illich las ich, dass die mittelalterlichen Mönche die „Augenzucht“ gekannt hätten (ich hoffe, ich gebe das hier aus der Erinnerung richtig wieder). Diese „Augenzucht“ betrifft nicht nur den ein Objekt hereinholenden Blick selbst, sondern auch den Beweggrund, aus dem das Hereingeholte hereingeholt wurde.


Schönheit als das Begleitende, der Schimmer, der Wahrheitsfindung

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 398

Manchmal ist im Meeting dieses Schimmern spürbar. Dieser Schimmer, die Schönheit, wenn sie im Meeting spürbar werden, dann ist die Gruppe auf dem Weg der Wahrheit. Die Wahrheit ist etwas Ästhetisches. Kann Schönheit in diesem Sinne ein Prüfstein für das Vorhandensein von Wahrheit sein?


Wenn ich strahle, strahlt es (7. Mai, Paris)

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 401

Als ich 2008 zu den Anonymen Alkoholikern kam, erlebte ich im Meeting Menschen, die strahlten. Es war ein Leuchten, hinein in meine Seele. Es wurde in mir heller, wenn sie sprachen (auch wenn einer der Oldtimer oft das Gleiche sagte; ich freute mich auf dieses Gleiche, das mir Hoffnung gab und den Wunsch, trocken ein neues Leben beginnen zu können).

Ich darf selber strahlen! Wir können einander Sterne, Sonnen, Wärme- und Lichtkörper sein!

Übrigens schirmen Masken auch dieses Strahlen ab!


Im Glück, im rechten (ja), geschieht zugleich der Aufruf zur Erinnerung an dieses Glück, und an den Ort dieses (jenes) Glücks. Und die rechte (ja) Liebe geht zusammen mit der Gewißheit der Unverlierbarkeit (auch wenn der Verlust kommen wird)

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 404

In mir gibt es immer noch oft den Aufruf zur Erinnerung an das Unglück, den Schmerz, die Bedrücktheit – das alte, vertraute Heim. „Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein! Das Schöne ist nur für die anderen da.“

Ich musste lernen (und lerne immer noch), mich an meine neue Freiheit und mein neues Glück zu erinnern, die ich in der Trockenheit schon erlebt habe.

Da ist Glück! Erinnere dich daran, dass es dieses Glück gibt, wenn dir die Dämonen etwas anderes erzählen. Und wenn sie sagen: „Das währt nur kurz. Du wirst schon sehen!“ dann halte ihnen diese Gewissheit der Unverlierbarkeit entgegen. Die Himmlischen Mächte (Higher Power) sind nur allzu bereit, dir zu helfen und beizustehen.


„Oder kommt es zurück, das Ideal, / Lieber zu zögern als recht zu haben?“ (Hermann Lenz)

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 406

Wie oft führt dieser Impuls „Ich habe recht“ dazu, dass ich losschieße? Zum Beispiel im Arbeitsmeeting meiner AS-Gruppe, in einem Gespräch oder einer Diskussion? Dann verschließt sich etwas in mir. Und ich verschließe mich vor der Begegnung, dem Dialog.

Was ist das Zögern? Es ist der Freiraum, in dem die helfenden Kräfte eingreifen, sich manifestieren können. Etwas anders drückt es ein Slogan der Anonymen Alkoholiker aus:

Willst Du genesen oder willst du recht haben?


Schwermut heißt: ohne Gegenüber

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 415

Wenn die Schwermut auf mir lastet, bin ich bedrückt. Bleiplatten liegen auf mir. Ich isoliere mich. Kann ich mich dann doch jemandem – einem Menschen, einem Himmelswesen – gegenüber öffnen, ändert sich alles. Genesen bedeutet auch, nicht mehr ohne Gegenüber zu sein. Ein ähnlicher AA-Slogan:

Ich muss nichts mehr alleine tun.


„Lerne zu tanzen; sonst wissen im Himmel die Engel nichts mit dir anzufangen“ (Augustinus)

Peter Handke, Gestern unterwegs, Seite 411

Das ist das Schlusswort für diesen Blogbeitrag. Zu diesem Buch „Gestern unterwegs“ möchte ich, ebenfalls mit Augustinus, sagen:

Nimm und lies, nimm und lies!

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