Suchtstoff, Suchtprozeß und die besten Jahre

Als ein Freund beschrieb, wie er in den Rückfall gegangen ist, wurde mir wieder deutlich, was es bedeutet, dass Lüsternheit nicht körperlich ist und noch nicht einmal ein starkes sexuelles Verlangen (so steht es im Buch „Anonyme Sexaholiker“). Der Weg zum sexuellen Ausagieren beginnt früh:

Lüsternheit ist ein Prozess. Es ist zum Beispiel dieses Zum-Handy-Greifen und Versinken in irgendwelchen Abfolgen von Nachrichten, Bildern, Filmchen und Musik. Es ist das voyeuristische Zuschauen, das Sich-Heineinziehen-Lassen, das Immer-Mehr und Nie-Wieder-Aufhören wollen. Nur immer mehr und mehr!!! Nie wieder zurück müssen in das normale Leben da Draußen, das doch nichts zu bieten zu haben scheint angesichts dieses ziehenden Strudels. Und dann, manchmal schon als Startpunkt, manchmal erst nach Stunden, wird noch die Zutat „sexuelle Darstellung“ hinzugefügt, was zum endgültigen Wegdriften, Hineinfallen, Sich-Aufgeben und -Auflösen führt. Lüsternheit ist so die ultimative Zutat, die den Kontrollverlust herbeiführt. Der Körper mag als materieller Träger oder Werkzeug der Lüsternheit mit in den Suchtprozess gebracht werden, es kann aber auch bei Bildern bleiben.

Deshalb ist es für den Sexsüchtigen so risikoreich, sich in diese Prozesse zu begeben. Der Prozess ist potentieller Bestandteil des Suchtkreislaufs – das Sexuelle „nur“ eine Zutat, bei der ich aber oft schon nicht mehr die Wahl habe, sie doch noch wegzulassen.

Und anschließend das Elend des Wiederauftauchen-Müssens, die Scham, der Schmerz, der Kater, die Verzweiflung, vielleicht auch schon die Selbstrechtfertigung und die Verharmlosung – irgendwer muss doch „Schuld“ sein! Es kann doch nicht an mir liegen.

Im Buch „Anonyme Alkoholiker“ gibt es einen Satz, der ein Versprechen ist. Er lautet:

Die besten Jahre liegen noch vor Ihnen.

Als ich noch im Sumpf der Sucht steckte, konnte ich das nicht glauben. Aber ich erinnere mich noch: Als ich zuerst zu AA und dann zu AS kam, da erlebte ich die Leute, die das hatten, was ich auch wollte: Ein richtiges, nüchternes Leben, mit einem Partner und mit einem Alltag, den sie so gestalteten, wie sie ihn selber gestalten wollten (und nicht, wie es die Sucht vorgab). Und ich glaubte und wünschte und hoffte – so ein Leben wollte ich auch. Ich würde es bekommen! Die besten Jahre liegen noch vor mir! Mit dieser Hoffnung und diesem Glauben hatte ich zugleich den zweiten Schritt vollzogen, ohne dass es mir bewusst war. (Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht oder Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.)

Heute habe ich dieses Leben, was ich mir gewünscht habe. Es ist voller Überraschungen. Ein Abenteuer, und wie bei jedem richtigen Abenteuer, auch manchmal schwierig oder ängstigend. Aber es ist genau so gut, wie es ist! Und die Entwicklung ist ja noch nicht zu Ende: Wieder liegen die besten Jahre vor mir – und ich freue mich darüber!

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