Solange ich in der Sexsucht aktiv war, mussten alle Versuche scheitern, wirkliche Selbstliebe oder Mir-selbst-Verzeihen zu praktizieren. Zu stark und zu nagend ist das Empfinden, mit der Sucht etwas Falsches zu tun, gegen mein wahres Ich, meine wirklichen Wünsche zu handeln. Zu groß ist die Scham, auch wenn ich sie vielleicht noch mit einer trotzigen Haltung wegdrücke.
Erst als ich trocken wurde und lernte, dass auch die Sexsucht eine Krankheit ist, die ich mit Hilfe des AS-Programms stoppen kann, begann auch der Weg der Selbstannahme. In den Meetings stellen wir uns üblicherweise so vor, dass wir auch unsere Sucht benennen: „Ich bin xy, ich bin ein Sexsüchtiger…“
Manchmal sträuben sich Betroffene gegen solche „Ich bin“-Formulierungen. Sie sagen: „Aber ich bin doch nicht meine Sucht, ich habe sie. Ich will mich doch nicht über meine Sucht definieren!“
In Bezug auf Gefühle im Allgemeinen ist das bei mir auch so. Gefühle sind wie Wolken, sie ziehen auf und sie ziehen auch wieder vorüber. Daher hilft es mir, mich mit meinen Gefühlen nicht zu identifizieren. Wenn ich verstimmt bin, dann ist das nicht für alle Zeiten so. Die Verstimmung, die ich gerade habe, wird vorüber ziehen. Ich bin nicht meine Verstimmung, sondern ich habe eine Verstimmung.
Mit meiner Sexsucht ist das allerdings anders. Sie ist tief in mich eingeprägt. Ich kann mit Hilfe des Zwölf-Schritte-Programms zwar trocken bleiben und ein zufriedenes Leben führen. Würde ich aber zum Beispiel wieder mit Pornografie einsteigen, wäre ich sofort wieder da, wo ich 2012 aufgehört habe. Die Sexsucht hat einen körperlichen Aspekt, der sofort wieder aktiv wird, wenn ich ihm mein Suchtmittel wieder zuführe. Auch eine lange Zeit der Nüchternheit führt nicht dazu, dass ich wieder kontrolliert lüstern sein kann. Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker!, so fasst das Blaue Buch diese Erfahrung zusammen. Und die gilt auch für den Sexsüchtigen.
Daher hat es für einen wirklich Süchtigen eine ungemein befreiende Wirkung, die Wahrheit auszusprechen und zu akzeptieren: Ich bin ein Sexsüchtiger. Dieses „Ich bin“ ist also befreiend, weil ich den Kampf gegen diesen Teil von mir aufgebe. Es bedeutet Annahme dessen, was mental und vor allem auch körperlich Tatsache ist.
Mit diesem erstmaligen Annehmen, möglichst gleich beim Einstieg in AS oder in eine andere Zwölf-Schritte-Gruppe, ist auch der erste Schritt Richtung Selbstannahme getan. Später, wenn ich mich mit den Schritten vier, fünf, acht und neun meiner Vergangenheit stelle, wird auch das Verzeihen erstmals eine Option – mir selbst und anderen.
Das alles setzt Trockenheit voraus. Erst wenn ich erfahre, dass ich wirklich aufhören kann, steht nicht mehr das ganze Fühlen und Denken unter dem Diktat der Sucht. Die süchtige Vergangenheit fängt ganz langsam an, Teil meiner Geschichte zu werden. Als Teil meiner Geschichte kann sie erkannt, betrauert und angenommen werden. Wenn so die Selbstvergebung und Selbstannahme aufkeimen, dann kann ich auch den Tatsachen ins Auge sehen, wo ich andere verletzt und anderen geschadet habe – und wiedergutmachen, wo immer es möglich ist.
Wichtig ist, eines zu wissen: Gott hat mir bereits verziehen. Jetzt brauche ich nur meinen Teil zu tun, meine Fußarbeit zu machen. So führt der Weg Schritt für Schritt, Stufe für Stufe heraus aus den alten Verhaltensmustern.