Sechs Empfehlungen für den Genesungsalltag (Teil 4)

Mein erster Sponsor (bei den Anonymen Alkoholikern) gab mir sechs Empfehlungen, die meinem Alltag einen „Genesungsrahmen“ gaben. In diesem Beitrag stelle ich die sechste Empfehlung vor.

(Hier geht’s zum ersten,  zweiten und dritten Teil des Beitrags.)

Dies war die sechste Empfehlung, die mir mein Sponsor gab:

  • Wenn Du Angst oder Trinkdruck bekommst, sprich das Gelassenheitsgebet, bis Du Deinen Sponsor oder ein schon seit längerem trockenes AA-Mitglied anrufen kannst. Geh` ins Meeting.

Tu was, dann tut sich was!

Die Kraft kommt zur Tat!

Solche Slogans hörte ich am Anfang meiner Trockenheit. Erst nervten sie. Aber sie waren eingängig und halfen mir ins Programm. Meine „natürliche“ Reaktion auf Angst oder Trinkdruck wäre gewesen, mich zu verkriechen. Ich hätte versucht, den Druck „auszuhalten“. Irgendwann wäre in meine Phantasiewelt und die Sexsucht geflohen. Stattdessen versuchte ich jetzt, zu handeln. In dieser Empfehlung werden drei zentrale Werkzeuge genannt: Gebet, Kontakt mit Programm-Freunden und Meetings.

Diese Werkzeuge nutzte ich damals und ich nutze sie auch heute. Denn die Erfahrung im Programm zeigt, dass zuerst das richtige Handeln kommen muss. Die „richtigen“, also nicht-süchtigen, Gedanken und Gefühle folgen dem richtigen Handeln, nicht umgekehrt. Ich kann mich in dem Moment, in dem sich meine Sucht oder meine alten Muster meines Gehirns bedienen, mich nicht mit dem gleichen Gehirn „gesund“ denken wollen. Wenn ich aber handle, öffnet sich die Tür auch zu neuen Gedanken und anderen Gefühlen.

Gelassenheitsgebet

Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Das ist das internationale Gebet der Zwölf-Schritte-Gruppen. Es wird in den meisten Gruppen, die ich kenne, am Anfang oder am Ende der Meetings gemeinsam gesprochen.

Ich habe mein Leben lang umgekehrt gedacht: Ich wollte die Dinge ändern, die ich nicht ändern kann (Vergangenheit, andere Menschen, Weltgeschichte) und erkannte und wusste gar nicht, dass nur ich es bin, der sich selbst ändern kann. Das heißt nicht, dass ich nicht versuchen kann, auch in meiner Außenwelt etwas zum Guten zu verändern. Aber ob das dann klappt, ist offen. „Handele und gib das Ergebnis an Gott ab“, ist ein Motto, was mir hilft, meine Selbstüberschätzung ebenso loszulassen, wie Negativität, Zynismus und SElbstmitleid, die aus enttäuschten Erwartungen herrühren.

Das Gelassenheitsgebet ist ein praktisches Werkzeug: Ich kann mich bei jeder Situation, die mich beschäftigt, fragen: Auf welche Seite des Gelassenheitsgebetes gehört die Situation? Was sollte ich versuchen, zu ändern (um dann das Ergebnis an Gott abzugeben), und was sollte ich loslassen und Gott überlassen, weil ich es nicht ändern kann, es nicht zu „meiner Straßenseite“ gehört?

Mein erster Sponsor hatte mir gesagt: Du kannst das Gelassenheitsgebet wie ein Mantra benutzen. Das habe ich oft getan. Ich war so über-reizbar am Anfang, dass ich ohne diese einfache Werkzeug nicht gewusst hätte, wohin mit meiner Anspannung. Es hat mich immer wieder beruhigt und fokussiert.

„Gott“ ist hier wie überall, wo der Begriff auftaucht, „Gott, wie du ihn verstehst“. Es ist deine Vorstellung von Gott – dem Schicksal, dem Fluss des Lebens, der in allem mächtig wirksamen Kraft….

Jemanden anrufen

Ach, und dann stand auf dem Faltblatt neben den Empfehlungen noch:

„Telefonnummern“, und es waren einige Linien aufgedruckt, um sie dort zu notieren.

Die Telefonnummern sind wichtig, damit das Aus-sich-selbst-Herausgehen keine Theorie bleibt. Sondern damit ich bei Trinkdruck, Angst oder Dingen, die ich mit jemandem teilen sollte, auch wirklich zum Hörer greife. Das Telefon ist ein weiteres wichtiges Werkzeug der Genesung. Im Handy-Zeitalter werden die meisten Nummern wohl nicht mehr auf dem Faltblatt, sondern gleich im Telefonspeicher landen. Wobei: Ich hatte noch lange den Zettel in der Geldbörse, auf dem ich mir das erste Dutzend Telefonnummern notiert hatte. Es könnte ja sein, dass das Handy nicht funktioniert und ich die Nummern brauche.

Soweit die Reise zu den Empfehlungen des Anfangs, die, wie man sieht, auch in meinem Heute eine Rolle spielen.

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