Der erste Schritt der Anonymen Sexaholiker ist auch in Bezug auf Lüsternheit in der Vergangenheitsform geschrieben. „Wir gaben zu, dass wir der Lüsternheit gegenüber machtlos waren …“ Bedeutet das, dass ich der Lüsternheit gegenüber heute nicht mehr machtlos bin? Habe ich etwas falsch gemacht, wenn ich auch heute Lüsternheit absolut nicht vertrage?
Auf diese Frage habe ich zwei Antworten gefunden. Die erste beruht darauf, dass das Blaue Buch ein Text von trockenen Süchtigen für noch „nasse“ Süchtige ist, für Süchtige, die noch im Suchtkreislauf festhängen. Die Schritte beschreiben diesen Hilfesuchenden, wie das Programm bereits bei anderen gewirkt hat. Daher die Vergangenheitsform. Es heißt auch einleitend, bevor im Blauen Buch die Schritte genannt sind: „Hier sind die Schritte, die wir gegangen sind und die als Programm zur Genesung empfohlen werden.“
Die zweite Antwort ergibt sich aus der Struktur der Sucht. Sie hat zwei Elemente, die das Blaue Buch als „Obsession/ Besessenheit“ und „Allergy/ Allergie“ bezeichnet. Die Besessenheit ist etwas Seelisches, das mich immer wieder dazu bringt, mit dem Lüstern-Ausagieren wieder anzufangen. Diese Seite der Sucht verführt mich dazu, „das erste Glas“ zu nehmen, also z.B. das erste Pornobild anzuschauen, mich mit dem Auto auf den Weg zum Straßenstrich zu machen etc. Diese psychische oder mentale Seite der Sucht liefert mir eine Beschwichtigung („Diesmal nicht die ganze Nacht“) oder eine Ausrede („Das Leben ist ohne einfach nicht auszuhalten“) oder sie lässt mich einfach mit dem Ausagieren anfangen, ohne dass ich überhaupt dabei denke. Diese Seite der Sucht ist es also, die mich immer wieder „anfangen“ lässt und mir die Rechtfertigungen, Ausreden und Rationalisierungen dafür liefert.
Das zweite Element ist die „Allergie“, eine überschießende körperliche Reaktion, die in Gestalt des „süchtigen Verlangens“ (craving) auftritt. Habe ich mich von der Obsession dazu bringen lassen, wieder anzufangen, sorgt diese körperliche Seite der Sucht dafür, dass ich nicht mehr aufhören kann, bis die „Sauftour“ hinter mir liegt. Der Vorsatz „Diesmal nicht die ganze Nacht“ hatte sich doch so logisch angehört; aber nachdem ich erstmal angefangen hatte, konsumierte ich doch stundenlang Pornografie. Oder ging doch wieder zu einer Prostituierten. Oder gab doch wieder irrsinnig viel Geld für Telefonsex aus.
Diese Allergie heilt nach den Erfahrungen von AS nie wieder aus.
Einmal sexsüchtig, immer sexsüchtig.
Sobald ich „das erste Glas“ trinke, setzt das süchtige Verlangen ein und ich „muss“ weitermachen. In Bezug auf diese Allergie bleibe ich machtlos.
Aber diese körperliche Seite, das süchtige Verlangen, ist dann kein Problem, wenn ich nie wieder das erste Glas trinke, wenn ich also zum Beispiel die Pornografie und die lüsternen Blicke und Phantasien lasse. Und auf diesem Gebiet bin ich keineswegs machtlos! Denn sonst gäbe es keine trockenen Sexaholiker. Tatsache ist, dass ich machtlos bin, solange ich es alleine versuche, trocken zu werden. Durch die Anonymen Sexaholiker bin ich aber nicht mehr alleine. Hierher habe ich die Werkzeuge, mit denen ich auf einer täglichen Grundlage trocken bleibe, indem ich das erste Glas stehen lasse. Alleine, nur aus eigener Kraft, kann ich das nicht schaffen. Aber mit Hilfe einer Kraft, die größer ist, als ich allein, kann ich schaffen! Diese Kraft habe ich bei den AS und durch das AS-Programm gefunden.
Insofern kann ich sagen: Ich war machtlos. Heute, einen Tag nach dem anderen, helfen mir Höhere Kräfte, trocken zu bleiben. An diese „heran“ komme ich durch die Meetingbesuche, Sponsorschaft, die Lektüre der Programmliteratur, Kontakte zu AS-Freunden, durch Gebet und Besinnung und vieles mehr, das ich durch das Programm kennengelernt habe.
Es sind nur wenige, einfache Empfehlungen, die ich befolge: dieser Blog handelt davon. Das Geschenk ist meine Trockenheit.
2 Kommentare
Danke für diesen Artikel. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht und jeder noch so gut gemeinte Vorsatz endete im Desaster, sobald das „Craving“, dieses Verlangen in meinem Inneren einsetzte, und ich den Zeitpunkt übersah, wo ich diesen hätte unterbrechen können, d.h. dass ich dann absolut machtlos war noch irgendetwas zu verändern.
Doch woran erkenne ich, wann dieser Moment einsetzt, dieser Moment des „nicht mehr umkehren Könnens?“
Im Blauen Buch wird dies mit dem Einsetzen von Unruhe etc. beschrieben.
Michael Lehofer beschreibt es ähnlich: „jener Moment, in dem man etwas tut, um sich selbst zu entkommen. Wenn das funktioniert und man das öfter macht, dann ist man süchtig. … Sucht entsteht durch Vermeidung der Konfrontation mit sich selbst. Sie besteht in der Vermeidung der eigenen Realität.“
In diesem Sinne funktioniert auch das 12 Schritte Programm, weil ich hier mit Hilfe eines Sponsors (Begleiters) beginne mir zu begegnen, wie ich wirklich bin.
Und später heißt es bei Lehofer:“Ein kleiner Trost. … Wenn wir frei von Sucht sind, müssen wir uns nicht suchen – wir finden uns.“
Gute Genesung
Lieber B.,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Das Zitat bringt es gut auf den Punkt.
Herzliche Grüße