Ich habe mich immer für mein sexsüchtiges Verhalten geschämt. Manchmal habe ich versucht, der Scham dadurch zu entkommen, dass ich mir gesagt habe „So bin ich eben“. Oder ich habe versucht, die Sache ins Positive zu drehen: „Ich tue doch nichts Schlimmes. Ich werde es ab jetzt einfach genießen. Schluss mit der Scham!“ Oder ich habe den Mann dafür verantwortlich gemacht, der mich mit 15 sexuell missbraucht hatte. Aber am Ende stand ich immer wieder da voller Scham und Selbstverurteilung.
In Abwandlung eines Satzes aus dem Blauen Buch „Groll ist der Missetäter Nummer eins“ würde ich heute sagen: Scham ist für den Sexsüchtigen die Falle Nummer eins. Man könnte ja auf die Idee kommen – und diesen „Weg“ hatte ich auch versucht -, dass Scham doch nützlich sein müsse. Die Einsicht in das eigene Elend müsste doch irgendwann dazu führen, das selbstzerstörerische Verhalten loszulassen. Aber das funktionierte nie. Die Sucht war am Ende immer stärker, egal, wie schmutzig ich mich fühlte oder wieviel Tränen ich über mein Elend vergoß.
Ich habe bei den Anonymen Sexaholikern (AS) zwei Dinge zu diesem Thema gelernt. Der eine zentrale Satz war:
Ich bin nicht ein schlechter Mensch, der gut werden will, sondern ein kranker Mensch, der gesund werden will.
Die Sexsucht ist genau so eine Erkrankung wie die Alkoholsucht. Egal woher sie stammt, egal ob ich sie durch leichtsinniges oder Fehlverhalten selbst mit herbeigeführt habe: Wenn sie einmal Suchtcharakter angenommen hat, kann ich sie mit bloßer Willenskraft nicht wieder in den Griff bekommen. Sie ist zur Sucht geworden. Ich bin suchtkrank. Wenn ich von der Sexsucht loskommen will, muss ich sie behandeln. Der bei AS empfohlene Weg sind die zwölf Schritte.
Wenn ich diesen Krankheitscharakter anerkenne, kann ich mir auch Dinge verzeihen, die wirklich weder richtig noch gut waren. Zu der Zeit, als ich sie beging, konnte ich nicht anders. Ich wusste noch nicht, wie ich die Sucht stoppen könnte. Vielleicht lebte ich sogar noch in der Lüge und der Verleugnung über meinen wirklichen Zustand. Aber jetzt brauche ich nicht mehr zu verzweifeln. Durch AS kann ich mit der Sucht aufhören.
Als zweiten zentralen Punkt lernte ich: Ich muss die Karten auf den Tisch legen. Ich muss ehrlich zu mir selbst sein und schonungslos erkennen und bekennen, wie es um mich steht. Und auch wenn es zuerst völlig ungewohnt ist und sich vielleicht anfühlt, als wäre es unmöglich: Ich muss diese Wahrheit über mich auch anderen gegenüber offenlegen. Dazu gehört es, dass ich im geschützten Raum des Meetings den Satz ausspreche: „Ich bin xy, ich bin ein Sexaholiker.“
Bevor ich 2012 zu AS kam, suchte ich das Gespräch mit einem Freund, von dem ich wusste, dass er bei AS ist. Auf einem langen Spaziergang erzählte ich ihm meine Geschichte. Ich blieb nicht im Vagen oder Allgemeinen, sondern legte offen, wie sich die Sucht in meinem Leben im Detail äußerte. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich in diesem Gespräch den „ersten Schritt“ gemacht. Ich hatte zugegeben, dass ich der Lüsternheit gegenüber machtlos war und mein Leben nicht mehr meistern konnte – dass ich Hilfe brauchte.
Der Freund hörte mir zu und verstand. Als Sexsüchtiger wusste er, wovon ich sprach. Und ich fühlte mich so befreit! Endlich war einmal alles ausgesprochen, ohne Beschönigung, Einschränkung, Verharmlosung oder Rechtfertigung. An diesem Tag fühlte ich nicht nur, dass ich wirklich sexsüchtig und der Lüsternheit gegenüber machtlos bin. Ich hatte auch die Hoffnung, dass es mit AS wirklich einen Weg aus der Sucht gibt, auch für mich. Obwohl ich auf Sexualität eigentlich nicht verzichten wollte, entschied ich mich doch, es mit der Trockenheit zu probieren. Um eine Chance auf dauerhafte Genesung zu haben, musste ich im Kopf klar werden und „austrocknen“. Ich verzichtete auf Sex mit mir selbst und mit meiner Freundin. Ich hörte mit der Pornografie auf.
Es war möglich, aufzuhören! Ich lernte, dass Sex wirklich optional ist, dass ich nicht untergehe, wenn ich der Lüsternheit nicht mehr folge. So begann mein Weg der Genesung.