Salat mit Thunfisch und Charakterfehlern

Dass immer wieder eine Rückkehr zur Inventur und zu den Schritten 6 und 7 erforderlich ist, hat mir folgende Situation gezeigt.

Ich wartete zusammen mit drei anderen Personen darauf, in einem Imbiss bedient zu werden. Die Theke war lang und es gab mehrere wartende Grüppchen auf der einen und mehrere Mitarbeiter des Imbisses auf der anderen Seite der Theke. Ich sah, wie einer der Imbissmitarbeiter offenbar jemanden hinter mir Stehenden ansprach und nach der Bestellung fragte und ich wandte mich um. Schräg hinter mir stand eine Frau, die er angesprochen hatte. Sie streifte mich mit dem Blick und bestellte einen Salat mit Thunfisch, der in der Auslage stand.

Da sprang „es“ in mir an. Ich sprach die Frau an, ob sie nicht wisse, dass wir drei vor ihr da gewesen und deshalb auch vor ihr dran seien. Die Frau sagte aufgeregt, aber der Imbissmitarbeiter habe sie doch angesprochen. Sie hätte doch nicht gewusst, dass wir vor ihr dran seien. Sie steigerte sich innerhalb weniger Augenblicke in eine große Aufregung, sagte schließlich zu dem Imbissmitarbeiter, sie wolle den Salat nicht mehr und verließ mit wehenden Rockschößen den Laden.

Sehr schnell aufeinander folgten verschiedene Gefühle:

Ich spürte ein Triumphgefühl. Ich hatte „gewonnen“. Und außerdem war ich doch sogar fast freundlich zu ihr gewesen, hatte sie nicht angegriffen, hatte ihr nur gesagt, wie die Situation war. Eigentlich hatte ich es sowieso nur wegen einer anderen wartenden Kundin getan, die schon länger wartete und sich dabei auf einen Rollator stützen musste.

Dann empfand ich so etwas wie Mitleid mit der Frau. Sie hatte sich vielleicht auf das Essen gefreut, war genauso hungrig wie ich. Ich hatte zwar nichts falsch gemacht, sagte ich mir, aber ich würde für diese Frau beten.

Dann erkannte ich mich in der Frau. Wie oft war ich wütend weggelaufen, wenn ich mich geärgert oder ungerecht behandelt fühlte, aus Restaurants oder Geschäften.

Dann sah ich mich endlich selbst und die Wahrheit der Situation: Ich hatte gesehen, dass der Imbissmitarbeiter die Frau direkt nach ihrer Bestellung gefragt hat. Sie war etwas unsicher, hatte aber dann lediglich auf die Frage geantwortet. Sie hatte sich gar nicht vorgedrängelt. Wenn ich mich hätte beschweren wollen, hätte ich den Imbissmitarbeiter ansprechen müssen. Ich hatte ein anderes Motiv: Ich wollte jemanden – sie – belehren und zurechtweisen. Ich wollte den Triumph, im Recht zu sein und sie ins Unrecht zu setzen. Ich wollte jemanden bestrafen. D a s waren meine Motive. Und weil das Programm mir in den letzten Jahren zu mehr Ruhe und Selbstbewusstsein verholfen hat, konnte ich diese unfreundlichen Motive sogar noch hinter einer gewissen Nüchternheit verbergen und musste nicht keifen oder in einen Streit mit ihr einsteigen.

Und dann noch etwas: Nachdem die Frau den Imbiss verlassen hatte, unterhielten sich die Angestellten und auch andere Gäste über den Vorfall. Jetzt war meine einzige Sorge, dass ich schlecht dastehen könnte. Hatten die anderen etwa meine wahren Motive erkannt? Dann würde ich ja schlecht dastehen. Das wollte ich auf keinen Fall. Oder dachten sie, die Frau hätte sich übertrieben und unmöglich verhalten. Dann wäre ja alles gut. Ich stünde „gut“ da.

Als ich mich so sehen konnte, war die Selbsttäuschung endlich vorbei. Ich hatte einen Menschen verletzen wollen und dieses Ziel auch erreicht. Dabei war dieser Mensch sogar genau so, wie ich: ein kranker, verletzter, leicht kränkbarer Mensch. Anschließend wollte ich gut dastehen, der andere sollte schlecht dastehen.

Mir wurde bewusst, dass dies kein Einzelfall war. Ich habe diesen „Rentner“ (oder Meister Pfriem, s.a. hier) in mir, der wie aus einem Fenster im Erdgeschoss alles beobachtet und die vorbeigehenden Passanten zurechtweist und sich so kleine Triumphgefühle verschafft. Das Buch „Anonyme Alkoholiker“ kennt dieses Verhalten, wenn es sagt, dass wir immer nach Anerkennung streben und dabei im Inneren wissen, das wir sie nicht verdienen. Und dann strengen wir uns noch mehr an, uns selbst und andere über unsere wahren Motive zu täuschen.

Ich schrieb Inventur über die Situation und erzählte einem Programmfreund davon. Das Geschehen lehrte mich viel über mich selbst.

Wenn ich wieder irgendwen auf etwas hinweisen möchte, kann ich mich hoffentlich vorher fragen:

  1. Ist es sachlich richtig, worauf ich ihn hinweisen will?
  2. Was sind meine Motive für den beabsichtigen Hinweis?
  3. Ist er wirklich notwendig?
  4. Kann ich den Hinweis in angemessener Weise und in einem demütigen Geist geben? Im Bewusstsein, dass der andere ein Mensch ist, wie ich?

Wenn ich eine dieser Fragen mit „nein“ beantworten muss oder mir unklar über die Sachlage oder meine Motive bin – hoffentlich kann ich beim nächsten Mal „loslassen“ und schweigen statt „anzugreifen“.

Eine Frage bleibt noch: Wie könnte meine Wiedergutmachung für die heutige Situation aussehen?

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