Rückfallprophylaxe (II): Was ist das „erste Glas“ des Sexsüchtigen und wie „lässt man es stehen“?

Dieser Blogbeitrag baut auf dem vorherigen Beitrag auf, in dem das „süchtige Verlangen“ und der „Suchtkreislauf“ beschrieben werden.

(Ein erster Beitrag über Rückfallprophylaxe/ Rückfallvorbeugung ist hier zu finden.)

Die Grundlage der Anonymen Sexaholiker war die Entdeckung, dass das Genesungsprogramm der Anonymen Alkoholiker auch bei Sexsucht wirkt. Ersetzt man im Buch „Anonyme Alkoholiker“ das Wort Alkohol durch Lüsternheit (oder in manchen Fälle durch Sexualität oder sexuelles Ausagieren) dann kann sich der Sexaholiker mit den dort geschilderten Erfahrungen der Alkoholiker identifizieren. Und so, wie die Suchterfahrung die gleiche ist, ist auch der gleiche Genesungsweg möglich!

Da die Texte der Anonymen Alkoholiker auch die Grundtexte von AS sind, stammen auch viele bei AS gebräuchliche Formulierungen aus dem Bereich des Alkoholismus; so auch das Schlagwort vom „ersten Glas“.

Das erste Glas stehenzulassen, ist unerlässlich dafür, nüchtern zu bleiben. Denn der Konsum des ersten Glases Alkohol löst den körperlichen Zwang aus, weiterzutrinken. Die Anonymen Alkoholiker bezeichnen dieses Zwang als süchtiges Verlangen (craving), und dieses süchtige Verlangen führt wegen des vom Alkoholiker erlittenen Kontrollverlustes vom „ersten Glas“ zwangsläufig zur Sauftour.

Deshalb muss ich, um nicht wieder trinken zu müssen, dieses erste Glas stehen lassen. Und um das erste Glas stehen lassen zu können, muss ich das verdrehte Denken loswerden, das mich immer wieder dazu bringt, das erste Glas zu trinken, obwohl ich schon tausendmal die Erfahrung gemacht habe, dass ich nach dem ersten Glas nicht mehr kontrolliert trinken kann, sondern „saufen“ muss.

Denn das ist der Suchtkreislauf, der auf Dauer nur durch eine grundlegende Veränderung der eigenen Persönlichkeit zum Stillstand gebracht werden kann:

Verdrehtes Denken – erstes Glas – süchtiges Verlangen – Sauftour – Reue, Verzweiflung, Schwur: „Nie wieder“ – verdrehtes Denken – erstes Glas …

Was ist denn das „erste Glas“ des Sexsüchtigen? Und wie kann er es stehenlassen?

Beim Alkohol ist einfach: Das erste Glas zu trinken bedeutet, eine Flüssigkeit zu sich zu nehmen, die Alkohol enthält.

Und was ist es beim Sexaholiker, das dieser zu sich nimmt, das das verheerende süchtige Verlangen auslöst?

  • Der Stoff heißt Lüsternheit. Der Süchtige produziert ihn selbst, innerlich.
  • Lüsternheit kann einen körperlichen Auslöser oder Anknüpfungspunkt (den Anblick einer Person, eines Objektes, Parfümgeruch etc.) haben. Letztlich ist Lüsternheit aber nicht an einen „Stoff“ (Körper) gebunden. Sie ist eine „Kopfsache“.
  • Deshalb kann ich als Sexaholiker trinken, ohne dass irgendetwas Äußerliches passiert. Das Trinken des ersten Glases findet in mir statt, in meiner Seele: insbesondere als Phantasie, als innerer Film im Kopfkino.

Ein Beispiel:

Ich bin besonders in Gefahr, innere Bilder zu „trinken“ in der Zeit vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen. In diesen Zeiten kann Folgendes geschehen: Ich denke zum Beispiel an eine Frau. Wie sie aussieht. Eigentlich sieht sie ja nett aus. Und sie zieht sich auch gut an. Schon läuft der Film. Und er kann eine Sequenz später eine Sexszene oder eine Eheschließung beinhalten, eine romantische Verwicklung oder schlicht pornographische Bilder.

Deshalb ist einer der ersten und wichtigsten Grundsätze der Genesung von der Sexsucht:

Wenn ein Bild in Dir aufsteigt, mache aus ihm keinen Film!

Denn: Wer sich als Sexaholiker ein „inneres Kino“ als „Entspannungsmittel“ etc. leistet, ist auf dem Weg in den Rückfall ! Bei solchen Phantasien handelt es sich um einen klassischen Versuch, kontrolliert zu trinken.

Aber als Sexaholiker habe ich gerade diese Fähigkeit, kontrolliert lüstern zu sein, verloren (siehe den vorangegangenen Blogbeitrag). Natürlich können z.B. während des Einschlafens ungewollt Bilder auftreten. Mir hilft in solchen Situationen ein Gebet, das sie überlagert und verdrängt, und dazu führt, dass ich nicht in sie „einsteigen“ muss. Sollten sie belastend in Erinnerung bleiben, teile ich sie explizit mit einem Programm-Freund (was das bedeutet, siehe unten).

Weiter in der Aufzählung, was beim Sexaholiker „erste Gläser“ sein können:

  • Ich kann mir auch äußere Objekte durch einen Blick heranholen („lüstern trinken“), um in mir den Kick auszulösen, der der Wirkung des ersten Glases beim Alkohol entspricht! Für einen solchen Blick, z.B. auf eine Frau, genügt die Zeitspanne eines Wimpernschlages!

    In der AS-Literatur wird dieser Blick mit einer Spinne verglichen, die aus ihrer Lauerposition hervorschnellen kann, um sich ihre Beute zu sichern. Der Sexaholiker lässt seinen süchtigen Blick hervorschnellen und holt sich das lüsterne Beutebild in sein Inneres.

    Es ist in vielen Fälle eine Lüge, wenn ich als Sexsüchtiger sage, ich habe „versehentlich“ etwas gesehen. Das Sehen ist eine Aktion, eine Handlung. Versehentlich aufgenommene Bilder sind kein Problem, wenn sie nicht festgehalten werden.

Ein Beispiel:

Ich sehe aus dem Augenwinkel eine Frau im Bus an mir vorbeigehen, die ein Kleid trägt, das einen Brustausschnitt haben könnte. Es reicht ein einziger Beute-Blick auf diesen Ausschnitt, um mir ein Bild für mein inneres, lüsternes Fotoalbum zu verschaffen. Meine innere Kellerbar. Ich erlebe es sogar, dass ich erst dem Blick widerstehe, aber dann in die sich öffnende Bustür schaue, in deren Glas sich die Vorderseite der Person spiegelt. So tückisch und gierig ist die Sucht.

Deshalb sind weitere, zentrale Elemente der Genesung:

  • Höre auf, lüstern zu blicken!
  • Wenn Du versehentlich ein Bild aufnimmst, lasse es sofort wieder los.
  • Wenn Du es nicht sofort loslassen kannst (z.B. weil Du es nicht versehentlich, sondern willentlich aufgenommen hast), teile das Bild explizit mit Freunden im Programm.

Zu den Punkten 2 und 3:

  • Wenn Du versehentlich ein Bild aufnimmst, lasse es sofort wieder los.

Manchmal blicke ich beim Autofahren auf eine Radfahrerin, wenn ich einen Schulterblick mache. Oder kreuzende Fußgängerinnen sind leicht bekleidet. Ganz überwiegend kann ich diese Bilder sofort loslassen (kapitulieren). Ich sage leise:

Gott, was immer ich [spezifische Bezeichnung des Gesehenen, z.B. „an dem Po dieser Radfahrerin“] suche, bitte lass‘ es mich in Dir jetzt finden.

Denn was könnte mir ein Festhalten dieses Bildes geben? Aufregung, Betäubung, einen Kick? Zu welchem Preis? Das, was ich in meinem Leben wirklich suche: Geborgenheit, Sicherheit, Angenommen-Sein – das kann mir dieses Bild nicht geben. Ich lasse es los! Ich wende mich der Kraftquelle zu, die mich emotional-geistig mit dem versorgen kann, was ich wirklich suche.

  • Wenn Du es nicht sofort loslassen kannst (z.B. weil Du es nicht versehentlich, sondern willentlich aufgenommen hast), teile das Bild explizit mit Freunden im Programm.

Bilder, die ich mir wie eine Spinne ihre Beute eingefangen habe, kann ich anschließend in der Regel nicht einfach loslassen. Diese Bilder sind wie eine kleine Menge Alkohol in meinem Organismus, die, wenn ich nichts unternehme, bereits nach „mehr“ ruft. Ohne eine Handlung der Genesung werde ich irgendwann das nächste Bild hinzufügen. Und das nächste. Und dann folgt irgendwann zwangsläufig die Sauftour. Ich habe keine Möglichkeit, diesen Punkt vorher sicher zu erkennen und zu vermeiden. (Könnte ich dies, hätte ich ja doch die Kontrolle. Ich wäre kein Sexaholiker.)

Um solche Bilder loslassen zu können, muss ich sie ans Licht bringen. Dies geschieht, indem ich das Bild explizit mit einem Programmfreund teile. Dazu genügen (bei mir) wenige Sätze, z.B.:

Ich möchte gerne etwas explizit teilen. [„Gerne“, sagt der Freund.] Ich habe heute einer Radfahrerin, die einen Rock trug, auf den Po geschaut und ihre braunen Beine gesehen. Ich lasse das jetzt los. Danke, dass ich das Bild teilen durfte. [Freund: „Danke für dein Teilen.“]

Dieses spezifische oder explizite Teilen (siehe dazu hier und hier) ist für mich a) unerlässlich und b) bewirkt zuverlässig das Wunder, loslassen zu können.

Ein Schlüsselerlebnis war für mich der Besuch einer Aufführung, bei der ich vorher nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, dass die Darstellerinnen extrem triggernd für mich angezogen sein könnten. Zum Glück fand ich die Kraft, die Vorstellung sofort zu verlassen (das AS-Programm wirkte also zum Glück schon). Der Eindruck war aber so stark, dass ich das Gesehene nicht loslassen konnte. Ich griff zum Mobiltelefon und sprach dem ersten Freund das Erlebte auf den AB. – Ich konnte es nicht loslassen. Ich sprach dem nächsten Freund auf den AB – und konnte es immer noch nicht loslassen. Den dritten Freund erreichte ich persönlich. Als ich ihm alles schilderte, fiel die Last von mir ab. Wieder frei geworden. Wieder ein Genesungsgeschenk.

Wichtig: Ich brauche für meine Genesung von der Sexsucht Meetings der Anonymen Sexaholiker, einen Sponsor und das Zwölf-Schritte-Programm. In diesem Rahmen wirkt das oben Geschilderte. Meine vorangegangenen Versuche, nur auf der Grundlage meiner eigenen Kraft das erste Glas stehen zu lassen, waren immer gescheitert.

Meine Überempfindlichkeit erlebe ich heute nicht mehr nur als anstrengend, sondern auch als großes Geschenk: Das Geschenk der Bewusstheit und des Wachseins. Das Ende des Selbstbetruges und der Unehrlichkeit. Mein Leben lang habe ich danach gesucht. Die Sucht, Ausdruck größter Unfreiheit, wird so zum Anstoß und zum Ermöglicher der Freiheit!

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