Nur für Heute

Es gibt schwierige Tage. Tage, an denen ich mich überfordert fühle und mir alles schwer und bedrückend erscheint. Zu Beginn der Trockenheit war dies häufiger so. Damals half mir ein Satz meines Sponsors:

An manchen Tagen ist es deine einzige Aufgabe, abends trocken ins Bett zu kommen.

Dieser Slogan knüpft an eine der allerwichtigsten Ansatzpunkte des Zwölf-Schritte-Programms an: Dass ich mich immer auf das Heute konzentriere. Nur für heute bleibe ich trocken, einen Tag nach dem anderen. Nur für heute versuche ich, die nächste richtige Handlung zu tun. Das Wichtigste zuerst. Das Heute hat sich für Süchtige als das Maß herausgestellt, das zu bewältigen ist.

Als die AA-Gründer Bill W. und Dr. Bob den späteren Anonymen Alkoholiker Nummer Drei im Krankenhaus besuchten, da fragte ihn Bill: “Glaubst du, dass du für einen Tag trocken bleiben kannst?“ Er antwortete: “Jeder kann für einen Tag trocken bleiben.“ Seitdem gilt:

Wie bleiben immer nur einen Tag nach dem anderen trocken, immer nur für heute.

In „Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen“ wird dem Abschnitt über die Zwölf Schritte Folgendes vorangestellt:

Nur den Ersten Schritt, in dem wir aus tiefster Überzeugung unsere Machtlosigkeit dem Alkohol [der Lüsternheit] gegenüber zugeben, vollziehen wir vollkommen und bedingungslos. Die übrigen elf Schritte sind Idealvorstellungen. Sie sind erstrebenswerte Ziele und Maßstäbe, an denen wir unseren Fortschritt messen.

Warum wird der erste Schritt so hervorgehoben?

Was tue ich, wenn ich einer allergischen Reaktion gegenüber Haselnüssen machtlos bin? Wenn mir Gesundheitsschäden bis hin zu einem tödlichen Schock drohen können, wenn ich Haselnüsse esse? Ich esse sie nicht. Ich vermeide sie. Ich erkundige mich, ob das Essen sie enthält, bevor ich den ersten Bissen nehme. Je nach Schwere einer Allergie trage ich vielleicht sogar vorsorglich ein Medikament bei mir.

Wie gehe ich also damit um: Wenn ich also der Lüsternheit gegenüber machtlos bin? Wenn ich allergisch auf sie reagiere und zum Beispiel immer wieder mit zwanghafter Selbstbefriedigung, Pornographie-Konsum oder Prostituiertenbesuche beginnen muss? Wenn ich lüsterne Gedanken hege und Blicke nehme? Wie gehe ich dann mit der Lüsternheit um? Eigentlich doch wie bei der Nahrungsmittel-Allergie. Das heißt, ich folge den Versuchungen nicht mehr und vermeide lüsterne Situationen, Handlungen und Gedanken.

Bei der Sucht ist das zunächst komplizierter. Zu einer Sucht gehört, dass sie mir einredet, dass ich sie nicht habe. Zu ihr gehört die besessene Vorstellung, es das nächste Mal besser, kontrollierter, anders zu machen. Ich brauchte deshalb Hilfe, um die Sucht erfolgreich behandeln zu können. Mit den Anonymen Sexaholikern fand ich eine Kraft, die mir hilft, diese Besessenheit zu besiegen.

Dann konnte ich die Sucht durchschauen. Ich begriff, dass ich keine Lüsternheit mehr vertrage und der Konsum von Lüsternheit automatisch die allergische Reaktion des Kontrollverlustes nach sich zieht. Dann kann ich aus tiefster Überzeugung zugeben, dass ich der Lüsternheit gegenüber machtlos bin. Ich lasse das „erste Glas“ stehen, wobei mein erstes Glas lüsterne Blicke, Phantasien, Bilder und Worte sind. So löse ich die gesundheits- und lebensbedrohliche Allergie nicht aus und kann dem Ziel des Programms entgegenstreben, glücklich, voller Lebensfreude und frei zu sein.

Aber meine Wahrheit ist auch manchmal, dass ich doch wieder versuche, etwas, ein klein bisschen kontrolliert Lüsternheit zu mir zu nehmen. Das Weiße Buch beschreibt dies so (2. Auflage 2007, S. 81):

Statt fröhlich zum Himmel zu laufen, scheinen wir nur Schritt für Schritt von unserer Hölle abzurücken. Während wir vor ganzen Rückfällen zurückschrecken, denken einige von uns, wir könnten uns Teilrückfälle erlauben und die vorübergehende Erleichterung genießen. Wir testen unsere Grenzen. Wir haben alle möglichen Strategien des Verleugnens.

Dank AS habe ich eine Wahl zwischen der Genesung und der Hölle der aktiven Sexsucht – solange ich die Genesung wähle. Heute wähle ich die Genesung.

Ein Kommentar

B. 15. Januar 2019 Antworten

Danke für den Beitrag, den ich gerne an einen Sponsee weiterleite, der heute Schwierigkeiten mit nur ein „bißchen“ schauen hatte.

Als ich gestern allein durch Madrid lief, um für meine Frau gutes Wasser zu kaufen, erkannte ich sofort Frauen, die offensichtlich zufällig an bestimmten Plätzen standen. Es ist verrückt, dass – auch nach sechs Jahren Trockenheit – meine Lüsternheit sofort die Frauen scannt.

Ich durfte kapitulieren, meinen Blick nach unten auf die wunderschönen Steine richten, bis mein Kopf wieder frei war, von Gedanken wie:“Ich könnte doch nur ….“

Abends genoss ich die internationale Gemeinschaft im Madrider Meeting und hatte viel Freude und Zugehörigkeit – ein Gefühl, welches mir in meiner Zeit des ausagierenden fremd war.

In diesem Sinne Gute 24h

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