Bevor mein Genesungsweg begann, war meine Welt klein und eng. Ich hatte bis in die Details hinein die Angst, Fehler zu machen, da sich aus ihnen etwas Schlimmes entwickeln könnte. Ich könnte nass werden und mich erkälten, zu dünn angezogen sein und frieren, zu dick – und schwitzen, zu spät kommen, zu dick werden, krank werden, einen Unfall haben, eingeschlossen werden, ausgeschlossen werden, das Kleidungsstück könnte zerreißen oder schmutzig werden, der Knopf verloren gehen, mein Chef mich nicht mögen oder für unfähig halten, die Personalstelle mir auf die Schliche kommen, mich jemand in den Sexshop hinein- oder aus dem Sexkino herauskommen sehen, jemand mein Auto am Straßenstrich sehen…
Solche Ängste stammen bei mir vermutlich aus Verlassenheitserfahrungen und Gewaltzeugenschaft in der Kindheit, aus dem Erleiden der sexuellen Übergriffe in den Jugend. Sie äußern sich in Perfektionismus, Schwarz-Weiß-Denken, sensorischer und emotionaler Überempfindlichkeit, ständiger Sorge und Aufregung und Selbstüberschätzung im Wechsel mit Selbstunterschätzung und einigen Charakterdefekten mehr.
Einschub: Während ich dies schreibe, sitze ich übrigens keinesfalls tränenüberströmt vor dem Rechner, sondern es geht mir gut. Es ist einfach nur eine nüchterne Beschreibung. Schließlich konnte ich meinen inneren Kerker zwischenzeitlich verlassen und erkunde nun neugierig die Innen- und Außenwelt.
Was mir außerdem in den vergangenen Jahren immer wieder auffällt: Es gab in mir viele mir selbst nicht immer bewusste „Du musst“, „Du darfst nicht“ oder „Man tut (nicht)“, die mir mein Leben bis in den Schlaf hinein schwer machten und manchmal heute noch machen. Aber ich komme ihnen auf die Spur…
Ein Beispiel: Ich schlafe schon seit Jahren überwiegend schlecht. Zum Glück schlafe ich zwar schnell ein, schlafe dann aber unruhig, werde halb wach, weiß dann nicht, wo ich bin, wo der Weg zur Toilette ist etc . Ob das schon immer so war, weiß ich nicht mehr. Im letzten oder vorletzten Winter fiel mir dann auf, dass ich selbst in Bezug auf mein Zu-Bett-Gehen solche „Vorurteile“ habe. So habe ich zum Beispiel oft an den Füßen gefroren, aber nichts dagegen gemacht. Ich glaube, ich hatte tatsächlich eine „Vorstellung“, wie ein Zu-Bett-Gehen auszusehen hat: Klamotten aus, Schlafanzug an, unter die Decke. Dass man auch Socken anziehen kann, sich eine Decke über die Füße und Beine legen, eine Wärmflasche machen, sogar zwei Oberbetten gleichzeitig benutzen… Dass kam mir nicht in den Sinn. Ich war nicht zur Selbstfürsorge in der Lage, und anstelle der Selbstfürsorge gab es Vorstellungen, Vorurteile und Verhaltensmuster, die mein Verhalten lenkten. Also fror ich. Anders meine Frau: Nachdem sie einige Tage in dem Bett geschlafen hatte, sagte sie: Der Raum sei sehr kalt. – Das hatte ich auch immer so empfunden. Aber man kann ein Schlafzimmer doch nicht noch stärker heizen. Meine Eltern schliefen immer mit offenem Fenster, auch im Winter. So macht man das. So „geht“ schlafen. Tatsächlich war es vor einigen Jahren ein großer Schritt, als ich begann, das Zimmer im Winter überhaupt zu heizen, um mich wohler zu fühlen.
Ich darf mich wohlfühlen. Ich darf für mich sorgen. Ich darf meine körperlichen Bedürfnisse wahrnehmen und sie stillen.
Diese Sätze kann ich mir heute sagen.
Lieber Leser, kennst Du so etwas? Diese Ängste, Vorurteile und Zwänge? Die Trockenheit von der Sucht ist nicht das Ziel, sondern erst der Anfang des Weges. Sie bringt den Grund unter die Füße, dass ich überhaupt auf dem Weg der Genesung gehen kann. Mit ihr beginnt die Reise. Es ist eine Abenteuerreise, um Mensch – Sussja – zu werden, um Lieben zu lernen, Freude, um den Fluss des Lebens nicht mehr als feindlichen, reißenden Strom, sondern als den Strom zu sehen, der vom Himmel kommt und auch zum Himmel zurückfließt.