Kein stehender Tümpel

Ein Kennzeichen meiner Sucht war, dass ich in mir gefangen war. Ich war mein Leben lang nur mit mir beschäftigt, und zwar auch dann, wenn ich etwas für andere getan habe. Denn dieses „Für andere etwas tun“ war nicht frei.

Es war immer verbunden mit Forderungen an den anderen oder mit Angst, etwas falsch zu machen. Oder die Aktivität beruhte insgesamt darauf, dass ich glaubte, nur etwas Wert zu sein, wenn andere mir dies bestätigten. Manches habe ich auch nur getan, weil ich nicht nein sagen konnte. Natürlich war es zum Teil auch echter Herzensidealismus, der mich zum ehrenamtlichen Engagement brachte. Aber auch in diesen Fällen war der Einsatz für mich so anstrengend, weil ich ständig mit meinen Ängsten zu tun hatte. Ich war immer „im Krieg“.

Ein Kernpunkt des Zwölf-Schritte-Programms ist der Einsatz für andere. Alle Formen, die es hier gibt, werden meistens unter dem Begriff „Dienst“ zusammengefasst. Dienst beginnt mit einfachen Sachen wie Tee kochen oder den-Tisch-abwischen vor dem Meeting, umfasst die Kerndienste in der Gruppe (z.B. Kassierer, Literaturdienst) und geht über Sponsorschaft und das Sprechen in der Gruppe bis zum Engagement in der Region oder im Weltdienst.

Es gibt drei Slogans, die ich in diesem Zusammenhang immer wieder gehört habe:

  • Dienst hält trocken (auch in der Form: Spülen hält trocken).
  • Nur was du weitergibst, kannst du behalten.
  • Werde kein stehender Tümpel. Alles was hereinfließt, muss auch wieder hinausfließen.

Tatsächlich glaube ich, dass es vor allem der Dienst ist, der mich trocken hält. Ich war in diesem Jahr in Ausland als Sprecher zu einer Convention eingeladen. Es war so etwas besonderes, dass ich dort meine Geschichte erzählen und meine Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen konnte. Ich bin Menschen wirklich begegnet, die über ihre persönlichsten Dinge mit mir gesprochen haben. Ich habe Leid erlebt, und Hoffnung, Trauer und das Glück des Verbundenseins auf dem Genesungsweg. Der zweite zentrale Dienst ist  Sponsorschaft. Meine Sponsees sind wichtige Lehrer für mich. Wenn ich erlebe, wie sie Schritt für Schritt gesünder werden und zu sich selbst und für die Welt erwachen, dann belebt mich das selber, hilft mir beim gesünder werden und vor allem, es schenkt mir Hoffnung, wenn ich selber gerade in einer Phase bin, wo ich „die Flügel hängenlasse“. Und wenn es mir gerade gut geht, kann ich das weitergeben, denn tatsächlich gilt:

  • Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Ein weiterer Dienst, der mich belebt, ist das Schreiben. Wenn ich einen Blog-Artikel geschrieben habe, bin ich gleichzeitig mit mir verbunden, aus mir (dem engen Ego) herausgekommen und innerlich in den spirituellen Strom des Programms eingebunden.

Alles drei bedeutet, kein stehender Tümpel zu sein. Alle meine Erfahrungen und mein Wissen kann ich weitergeben. Und das muss ich auch. Ich kann und ich darf nichts für mich behalten wollen. Ich habe es schon erlebt: Es ging mir ein paar Tage nacheinander richtig gut. Wow, ich war im Lebensstrom, mir wurden Dinge klar, ich erhielt Einsichten. So, wünschte ich mir, soll es bleiben! Der Versuch, es festzuhalten, begann. Ich konnte es nicht festhalten! Bis ich wieder daranging, es zu teilen. Am besten sofort. Wenn meine Hände geben, dann sind sie leer. Und nur mit leeren Händen kann ich wieder empfangen!

Am allerwichtigsten ist es dabei, ganz ernsthaft zu versuchen, das Geben nicht mit Kontrolle oder Forderungen zu verbinden. Das unterscheidet dieses Geben von dem früheren, unfreien Geben, das eigentlich nur ein manipulatives Bekommen-Wollen war. Wenn ich z.B. einen Newcomer unterstütze, der erst intensiv in Kontakt mit mir ist, aber dann von der Bildfläche verschwindet – bin ich enttäuscht? Ich habe ja so viel Zeit „investiert“. Wenn ich so denke, habe ich Sponsorschaft nicht verstanden. Dann liege ich falsch. Tödlich falsch, weil ich, statt zu geben, in Wirklichkeit fordere, kontrolliere und manipuliere. Und diese Verhaltensweisen bringen mich in mein altes Elend zurück und von da ist es nur ein kurzer Weg zum Rückfall. Nein, ich sponsore, weil es mir hilft. Ich kann dadurch weitergeben, was ich bekommen habe und muss kein stehender Tümpel werden. Natürlich hoffe ich, dass es auch dem anderen hilft und ich bete auch dafür, dass ich im Umgang mit Sponsees keinen Schaden durch mein großes Ego anrichte. Aber wenn es dem Sponsee nicht geholfen haben sollte – mir hat es geholfen. Dafür bin ich dem Sponsee dankbar. Was mit ihm ist, liegt nicht in meiner Kontrolle oder Verantwortung.

So ist es mit allen Diensten. Der Dienst, verantwortungsvoll ausgeführt, hält mich trocken. Ich bin nur für meine Straßenseite verantwortlich. Das Ergebnis überlasse ich den Höheren Mächten.

In einem Tagebucheintrag von Dezember 1958 beschreibt einer meiner Lieblingsautoren, Hans Glaser, aus einer anderen Perspektive eben diese Notwendigkeit, nicht zu einem stehenden Tümpel zu werden. Nachdem ich diese Tagebuchstelle gelesen hatte, wurde mir klar, dass mein kleines Ego oft eintrübt, was eigentlich klar und rein sein könnte, z.B. auch den Dienst, den ich tue. Auch hier bin ich machtlos und ganz und gar angewiesen auf die helfenden Kräfte, die um mich sind und jederzeit bereit sind, mir zu geben – wenn meine Hände frei sind und in meinem Herzen Platz ist:

Die Geste, die gegen das Böse schützt, ist die Demut. Allen Stolz, Krampf loslassen und tief beschützen, was im Innersten lichtet.

Der Weg zu sich selbst:

Der Strom, der nach dem Weltmeer fließt. nicht den Wässerchen in mir folgen, die im Sumpf und Morast enden.

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