Kapitulieren bedeutet, zu opfern (I)

In unserer Literatur wird oft vom Kapitulieren gesprochen. „Ich kapituliere vor der Lüsternheit.“

Ich verwende diesen Begriff selten und spreche eher von „loslassen“. Auch im Blauen Buch heißt es:

Kapitulieren bedeutet loslassen.

Surrender means letting go.

Und das, was ich loslasse, kann ich den Höheren Kräften übergeben.

Let God, let go.

Loslassen und Gott überlassen.

Loslassen ist eine bis ins körperliche gehende innere Handlung. Ein lüsternes Bild kommt auf. Ich sehe zum Beispiel eine Frau und habe direkt anschließend ein Bild vor Augen, wie sie nackt aussehen könnte. Früher hätte ich in einer solchen Situation zwei nur Handlungsmöglichkeiten gehabt. „Wegdrücken“ oder „nachgeben“. Und wenn auch zunächst das Wegdrücken klappte. Die Lüsternheit sammelte sich und sammelte sich an – bis ich nachgab. Die Fähigkeit zum Aufschub und zur Kontrolle des „Wie, wo und wann“ des Nachgebens nahm in der Suchtentwicklung ab.

Bei AS habe ich eine dritte Handlungsmöglichkeit kennengelernt: Eben jenes Loslassen. Das Bild kommt auf. Ich bemerke es und drücke es nicht weg, sondern „lasse es los“, „gebe es weg“, weg an die Höheren Kräfte, die die Last der drohenden süchtigen Reaktion von mir nehmen. Wenn ich ohne Absicht ein Bild aufnehme oder es in mir entsteht, dann reicht oft eine kurze Affirmation oder ein kurzes Gebet zum Loslassen. Habe ich das Bild bewusst hervorgerufen, gar einen Kurzfilm daraus gemacht, oder habe ich mich lüstern umgeschaut und ein Bild aufgenommen, dann reicht dieses bloße „für-mich“ Loslassen nicht mehr aus. Die Lüsternheit wird wach und es droht größte Gefahr! Dann rufe ich einen Programmfreund an und erzähle ihm, was mit mir los ist. Und dann kann ich (hoffentlich noch) loslassen.

Gestern wurde mir bewusst, dass dieses Loslassen eine Form von Opfer ist. Früher waren diese Bilder, im Kopf, auf Papier oder auf dem Bildschirm, meine Heiligtümer. So wie auch meine Überzeugungen oder Gewohnheiten „Heiligtümer“ waren, an denen ich mich krampfhaft festhielt.

Wenn ich nun einen Gedanken, ein Bild, eine Gewohnheit, ein (Vor-) Urteil in Richtung der Höheren Macht aufgebe, opfere ich sie. An der Stelle bleibt zunächst eine Lücke, ein Loch, ein unbesetzter Platz. Und an diesen Platz, in diesen Schmerz hinein, können sich die helfenden Mächte entfalten und Kraft, Trost und Inspiration spenden. Das ist Gnade: Wenn ich den heilenden Kräften für einen Moment die Tür öffnen kann, dass sie an den Ort treten können, an dem sonst immer irgendwann die Sucht den Kampf gewann. Einen Kampf, den ich alleine niemals gewinnen könnte. Aber ich muss heute nicht mehr allein sein. Ich muss nicht mehr vor dem Schmerz in die Sucht fliehen. Ich kann trocken bleiben und leben, einen Tag nach dem anderen!

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