Kamel am Pflock

Anthony de Mello erzählt in einem Vortrag eine Geschichte…

…(leicht gekürzt aus: Anthony de Mello, Das Leben neu entdecken – Aufwachen zum Glück, Freiburg im Breisgau 2013, S. 63 f.)

Ein Kamelhändler zieht durch die Wüste. Abends lässt er ein Nachtlager aufbauen, die Sklaven schlagen Pflöcke in die Erde und binden die Kamele an. Als sie fast fertig sind, kommen sie zu ihrem Herrn. „Wir haben nur neunzehn Pfähle, aber zwanzig Kamele. Wie sollen wir das zwanzigste Kamel anbinden?“ Der Herr sagt: „Kamele sind dumme Tiere. Tut einfach so, als würdet ihr es anbinden, und es wird die ganze Nacht dableiben.“ So geschieht es, und das Kamel beibt tatsächlich da. Als am nächsten Morgen alles zum Aufbruch bereit ist, kommen die Sklaven wieder zu ihrem Herrn. Sie beklagen sich, dass alle Kamele der Karawane folgen bis auf dieses eine. Es weigert sich, auch nur einen Schritt zu gehen. „Ihr habt vergessen, es loszubinden“, sagt der Herr. „Oh ja“, sagen die Sklaven und tun so,als würden sie es losbinden. Da folgt auch dieses Kamel der Karawane.

Ich fühle mich so oft gebunden durch Angst und Sorge. Ich bin wie gepolt darauf, jedes noch so kleine Alltagsrisiko zu erkennen und daran festzuhalten. Aber heute weiß ich: Nicht die Risiken lösen die Angst aus, sondern die Angst, die unter der Oberfläche immer da ist, sucht sich im Äußeren Umstände, die sie als gerechtfertigt erscheinen lassen. „Ah, da ist dieses und jenes Risiko, kein Wunder, dass ich Angst habe.“ Nein, es ist die Überwachsamkeit in Verbindung mit der tief verwurzelten Angst, die jedes kleine Risiko zu einer großen Bedrohung anwachsen lassen kann.

Ich habe durch die Inventuren im Rahmen der Schrittearbeit Kenntnisse darüber gewonnen, wer mich „angepflockt“ hat. In meiner Kindheit und Jugend konnte ich das Vertrauen ins Leben und in mich nicht so entwickeln, wie es bei einem gesünderen Aufwachsen möglich gewesen wäre. Es gab „Sklaven“ – sie waren tatsächlich selber Sklaven ihrer Unwissenheit, Krankheit und Angst – , die mich angepflockt haben – damals real. Die Gewalt, deren Zeuge ich wurde, war real. Der Missbrauch war real.

So stand ich Jahre an dem Pflock. Ich konnte mich nicht bewegen. War der Pflock nicht real? Für mich blieb er real.

Dann kam ich zu AA, später zu AS: Meine Machtlosigkeit zugeben – und Hoffnung bekommen, dass ich eines Tages wieder meines Weges werde ziehen können: das sind die Schritte eins und zwei.

Obwohl die, die mich angebunden haben, schon lange nicht mehr in meinem Leben sind. Obwohl ich gar nicht mehr in der Wüste bin: Die Wüste ist noch in mir. Aber weil ich die Hoffnung auf Freiheit gewonnen habe, vertraue ich mich Gott, wie ich ihn verstehe an: Schritt drei.

Das sind schon die ersten Schritte! Ich stehe schon nicht mehr am unsichtbaren Pflock! Ich bin bereits auf dem Weg der Genesung!

Jetzt führen mich die weiteren Schritte aus der Wüste zurück ins Leben.

Die Inventurschritte und die Wiedergutmachung binden mich immer wieder los, wenn ich in alte Muster falle und mich selbst wieder binden musste. Meine bisherigen Erfahrungen auf dem Genesungsweg helfen mir, zu sehen: Der Pflock existiert nicht mehr. Und auch, wenn ich mich gerade vielleicht wieder binde, gebunden fühle: Ich werde mich aus dieser Fessel lösen können, immer nur für heute, einen Tag nach dem anderen.

Schreibe einen Kommentar