Was mich betrifft, so erscheint mir bisweilen die Formulierung „ich bin Angst“ zutreffender für meine innere Verfassung als „ich habe Angst“. – David K. Reynolds, Die stillen Therapien, Essen 1994, S. 23
Bei den Anonymen Sexaholikern stellen sich viele zu Beginn eines Wortbeitrags im Meeting mit dem Satz vor: „Ich bin [Name], Sexaholiker“. Manche Neue lehnen das zunächst für sich ab. Sie sagen, dass sie es nicht gut finden, denn sie würden sich doch nicht über ihre Sucht definieren wollen! Es wäre doch gerade ihr Ziel, den Zwang loszuwerden!
Als ich 2008 zuerst vom Alkohol trocken wurde, habe ich wahrscheinlich auch noch so etwas gesagt. Dann wurde ich davon trocken und habe kennengelernt, wie befreiend es ist, zu kapitulieren, das heißt: Loszulassen.
Als ich dann aber 2012 zu den Anonymen Sexaholikern kam, konnte ich es sofort laut sagen. Es war eine Erlösung: Ja, ich bin Sexaholiker! Mein ganzes Wahrnehmen, Denken und Wollen ist von dieser Sucht beeinflusst, getrübt und oft sogar völlig von ihr bestimmt! Ich bin Sexaholiker und ich bin machtlos! Dieses Eingeständnis war die Befreiung. Denn damit war auch klar, dass ich tatsächlich krank war. Meine Persönlichkeit war beschädigt und beeinträchtigt und ich brauchte Hilfe, um wieder gesund zu werden.
Der noch „nasse“ Sexaholiker kann aufgrund seiner Sucht nicht anders, als immer wieder den Wagen vor das Pferd zu spannen: Er nimmt Lüsternheit zu sich und versucht anschließend, die Art oder Menge dieser Giftzufuhr zu kontrollieren. Da er krank ist, lüsternheitskrank, funktioniert aber gerade das nicht. Dem Konsum von Lüsternheit folgt immer die „Sauftour“, mögen Vorsatz oder Notwendigkeit, diesmal nicht abzurutschen, noch so stark sein. Die Abfolge:
Lüsternheits-Konsum, Gefühl der Erleichterung, Auftreten des süchtigen Verlangens, Durchgang durch die Stadien einer „Sauftour“ (süchtiger Konsum) und dann, nach der Sauftour: Scham und der Vorsatz, es beim nächsten Mal besser zu kontrollieren oder es ab jetzt ganz zu lassen,
ist für den wirklich Süchtigen zwingend und unvermeidbar – bis zur Kapitulation, das ist das Eingeständnis der Niederlage:
Ich bin Sexaholiker!
Und es ist eine Befreiung und von da ab kann Genesung beginnen. Bei AS habe ich gelernt, dass es außer dem Ausagieren auf der einen und dem Unterdrücken der Gier auf der anderen Seite noch diese dritte Option gibt: Aufzuhören zu kämpfen und sich, mit Hilfe der höheren Kräfte, die ich trocken „anzapfen“ kann, von der Fixierung auf die Sucht abzuwenden und ein neues Leben ohne Suchtmittel zu beginnen.
Das hört sich für diejenigen, die noch drinhängen, theoretisch an. Es ist wie mit allen Erfahrungen: Ich muss sie selber machen! Wer noch nie geschwommen ist, hat Angst vorm Wasser und weiß nicht, was für ein wunderbares Gefühl es ist, darin zu „schweben“ und davon getragen zu werden. Wenn es ihm einer erzählt, hilft das nicht: Er muss selber schwimmen lernen und es erleben!
Ich versuche heute, mich diesem Fluss des Lebens anzuvertrauen. Ich brauche nicht mehr wegzulaufen. Ja, ich bin ein Sexaholiker! Aber dieser Defekt hat mich zu meinem heutigen Leben geführt in dem ich mich wohl fühle und das ich für keinen Rausch mehr eintauschen möchte!
Als ich das Eingangszitat von Reynolds gelesen habe, hat es mich gefreut, dass dies ein Psychologe (in Bezug auf Angst) auch so erfahren hat. Und bei Reynolds bedeutet dies gerade nicht Passivität, ganz im Gegenteil.
Nach dem befreienden Ausruf „Ich bin ein Sexaholiker“ kommt es darauf an, das zu tun, was getan werden muss!
Changes beginn with action. – David K. Reynolds, Playing Ball on Running Water, 1984, S. 16