In Bezug auf mein sexuelles Ausagieren habe ich meine Machtlosigkeit erfahren. Ich wollte nicht wieder x Stunden Pornografie konsumieren. Ich wollte nicht wieder zu diesem erbärmlichen Straßenstrich fahren. Aber ich konnte nicht anders. Ich hatte sogar mein Auto verkauft, in der Hoffnung, es lassen zu können. Dann ging ich eben zu Fuß ins Laufhaus. Ich konnte es nicht lassen.
Erst bei AS begriff ich, dass die Sexualität gar nicht das Problem ist. Was ist z.B. an dem Konsum von Bildern oder am Im-Kreis-Fahren am Straßenstrich schon „sexuell“? Oder am voyeuristischen Schauen? Die Lüsternheit ist das Problem, dieses süchtige innere Ziehen und Zerren und Pushen. Die Sexualität kann dann im Paket dessen, was die Lüsternheit auslöst, Folge sein – oder auch nicht.
Dann, endlich „trocken“, wurde es wieder schwierig mit der Machtlosigkeit. Es widerstrebt mir manchmal, zu sagen, ich sei machtlos. Denn: Bin ich nicht trocken? Wieso soll ich denn machtlos sein? OK, ich bete, die Höheren Kräfte helfen mir dabei. Aber bin nicht ich es, der etwas tut?
Ja, ich tue was. Aber ich kann wirklich nichts daran kontrollieren, was aus dem, was ich tue, wird.
Am deutlichsten wird die Machtlosigkeit wieder am Beispiel Lüsternheit. Sobald ich wieder Lüsternheit zu mir nehme, zum Beispiel einer Frau auf den Po schaue oder ein in meinem Kopf aufkommendes Bild zum Film mache, gerate ich in Not. Die Allergie, die körperliche Überempfindlichkeit droht, ausgelöst zu werden. Hilferufend wende ich mich an meine Höhere Macht. – Noch einmal gut gegangen. (Oder auch nicht, ich kann es nicht kontrollieren. Lüsternheit „trinken“ bedeutet, sein Schicksal zu versuchen.) (Zu den zwei Elementen der Sucht, die das Blaue Buch als „Obsession/ Besessenheit“ und „Allergy/ Allergie“ bezeichnet, habe ich hier etwas geschrieben).
Tatsächlich bin ich sogar in jeder Hinsicht machtlos. In Bezug auf alles, wo mein Ego und meine Forderungen ins Spiel kommen. Ich kann nichts wirklich Wesentliches selbst bestimmen. Ich hatte z.B. für die vergangene Zeit und die Kar- und Ostertage so viel geplant. Und bin jetzt wegen der Corona-Krise zu Hause. Alle diese Planungen erschienen selbstverständlich. Und haben sich doch in Luft aufgelöst.
Und erst Recht bin ich machtlos in Bezug auf alle existenziellen Fragen: Geburt (wo auf der Welt, bei welche Eltern, in welchen Verhältnissen), Gesundheit, Tod, weltpolitische Entwicklungen: machtlos, machtlos, machtlos.
Natürlich kann ich versuchen, meinen Teil beizutragen und zum Beispiel Gifte vermeiden und nicht zu ungesund leben. Mich fortbilden. Mich um meine Verantwortlichkeiten kümmern. Aber das Ergebnis kann ich nicht kontrollieren.
Vielleicht ist das Machtlosigkeit in einem Satz:
Ich kann meine Fußarbeit machen, aber das Ergebnis nicht kontrollieren. Und zwar kein Ergebnis, in Bezug auf gar nichts.
Meine Schwierigkeit, meine Machtlosigkeit immer wieder anzuerkennen – und die Freiheit zu genießen, die darin liegt! – rührt auch von meinem Aufwachsen her. Die Erfahrung des Verlassen-Werdens, die Gewaltzeugenschaft: Ich war ständig auf der Hut und in Anspannung. Machtlosigkeit war real und doch etwas schwer Auszuhaltendes. Das wollte ich nie wieder. Statt dessen versuchte ich, zu kontrollieren. Ich soll also etwas – die Machtlosigkeit – anerkennen, das mir so viel Leid gebracht hat. Schwer!
Und noch ein Gesichtspunkt: Meine Religion bringt mich nah an Gott. Ich bin nach Seinem Bilde, Ihm gleich, geschaffen, heißt es. Das verführt zu Größenwahn. Aber ich bin eben doch nicht Gott. Es geht mehr um die tiefe Bejahung einer Möglichkeit, nicht um die Beschreibung von etwas, was schon da ist. Es ist die Möglichkeit, überhaupt erst einmal Mensch zu werden. Dazu gehört, meine Machtlosigkeit anzuerkennen, mein Ego immer wieder loszulassen – und frei zu sein!
Die Freiheit zu lieben, die mir die Machtlosigkeit gibt. Denn: Weil ich machtlos bin, muss ich nichts mehr kontrollieren! Ich darf leben, im Hier und Jetzt. Ich bin nur für meine Straßenseite verantwortlich, dafür, sie sauber zu halten. Sonst für nichts!
Gott will uns glücklich, voller Lebensfreude und frei haben, heißt es im Blauen Buch. Der Weg dahin ist die Machtlosigkeit. Immer nur für Heute!