Gefühlsausbrüche

Es gibt nicht nur den schweren Kater (hangover) vom Trinken. Es gibt auch den emotionalen Kater, von dem es in 12 & 12 heißt, dass wir ihn alle kennen, ob wir trinken oder nicht. Er ist die unmittelbare Folge meines gestrigen oder auch heutigen Ausbruchs negativer Gefühle – solcher Gefühle wie Zorn, Angst, Eifersucht und ähnliche. Wir können mit diesem Kater ebensowenig ein gutes Leben führen, wie mit dem Kater vom Trinken.

When a drunk has a terrific hangover because he drank
heavily yesterday, he cannot live well today. But there is
another kind of hangover which we all experience whether
we are drinking or not. That is the emotional hangover, the
direct result of yesterday’s and sometimes today’s excesses
of negative emotion — anger, fear, jealousy, and the like.

Twelve Steps and Twelve Traditions, p. 88 (Step 10)

Ich erlebe es bei mir, wie oft ich negative Gefühle habe, die ich selbst hervorrufe, rechtfertige oder nähre. So finde ich in der (ausgedachten) Aussenwelt eine Rechtfertigung dafür, an meinem Groll festzuhalten bzw. ihn als „normal“ zu betrachten (was habe ich als Sexsüchtiger schon alles für „normal“ gehalten!).

Im Weißen Buch wird darauf hingewiesen, dass unter der Lüsternheit andere Fehlhaltungen verborgen sind – Groll wird ausdrücklich erwähnt -, und dass diese mit Macht nach Außen kommen, wenn die alles verdeckende, ausgelebte Lüsternheit erst einmal weg ist. Und Groll ist supergefährlich für mich als Süchtigen. Er bringt oder hält mich genau in der Reizbarkeit, Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit, für die sich dann die Lüsternheit als „Lösung“ anbietet. Und dies gilt für alle negativen Gefühle, die in einen Gefühlsausbruch münden.

Gestern las ich bei einem spirituellen Lehrer, dass für die Seele Gefühle das sind, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leib Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit.

In den vergangenen Tagen habe ich oft mit diesen Gefühlszuständen zu tun gehabt. Typischer Ablauf: Ich lese einen kritischen Artikel zu irgendwetwas. Manchmal denke ich auch einfach an ein Thema. Dann nehme ich innerlich eine empörte Haltung ein. Ich steigere diese in der Phantasie zu einer Auseinandersetzung, Volksrede, einem (verbalen oder körperlichen) Kampf o.ä. – und bin in eben jenem emotionalen Rausch, der mir ein gutes Leben verunmöglicht, meine Seele abtötet, mich abtrennt von Gott und anderen Menschen und schließlich nach noch mehr Betäubung oder Erregung verlangt. Wie selbstmissbräuchlich dies doch ist! Das möchte ich nicht mehr! Ich möchte glücklich, voller Lebensfreude und frei sein, so, wie mich auch Gott haben möchte.

Das Erste ist für mich, mit der Erzeugung und dem Verstärken dieser Gefühlszustände aufzuhören (wie bei der Lüsternheit). Hier gilt wieder die Erfahrung, dass ich mich nicht gesund denken oder mir andere Gefühle „verordnen“ kann. Positives Denken und Fühlen folgen vielmehr auf Handlungen der Genesung.

Ein AS-Oldtimer hat einmal gesagt, Du kannst nicht mit dem kranken Kopf, der die die kranken Gedanken produziert, gleichzeitig versuchen, dich zu heilen. Das Denken sei nicht die Lösung, sondern das Problem.

Deshalb Handlungen der Genesung ausführen, die Gedanken und Gefühle folgen schon nach. Solche Handlungen sind:

  • Kurzcheck der H.A.L.T.-Regel: Bin ich zu H ungry (hungrig oder durstig), A ngry (wütend), L onelely (allein), T ired (müde). Manchmal reicht ein Butterbrot, um wieder ins Lot zu kommen.
  • Unterbrechen der Phantasie, des Gedankens durch ein Gebet: „Gott, ich bin dieser Phantasie gegenüber machtlos. Bitte hilf mir, dass ich sie loslassen kann.“ „Gott, was immer ich in dieser Wut suche, bitte lass es mich in Dir jetzt finden.“  Und zwar immer wieder. Loslassen und Gott überlassen. Wie bei der Lüsternheit kann ich nur etwas Konkretes kapitulieren und loslassen. Kapitulation ist kein Sparkonto, von dem ich dann Groll etc. abheben kann, ohne dass es schadet. Es gibt kein „Loslassen im voraus“. Allerdings versuche ich, mir eine kapitulierende Haltung zur Gewohnheit zu machen, so dass es schon in jedem Fall ohne Nachdenken geschieht. Bei der Lüsternheit klappt das oft gut. Jetzt ist der Groll usw. dran.
  • Inventur schreiben und die Inventur teilen Hier liegt bei mir noch „der Hund begraben“. Ich schreibe zu wenig Inventur. Genau um dieses Thema geht es in dem Abschnitt von Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen, aus dem das Eingangszitat stammt.
  • Wichtig ist das Ans-Licht-Bringen (letztlich ein Schritt 1, 5 und 10). Ich teile meine Schwierigkeit dem Sponsor,  im Meeting und in persönlichen Gesprächen mit. Ich bitte meinen Sponsor, mir seine Erfahrung zum Thema mitzuteilen. Dabei muss ich meinen Stolz und meine Scham überwinden. Danach fühle ich mich wie gereinigt!

Vorgestern habe ich endlich zu diesem Thema wieder klarer sehen können. Jetzt möchte ich am Ball bleiben. Das AA-Programm ist ein spirituelles Handlungsprogramm. Wie es ein schöner Slogan ausdrückt:

„Walk the talk“.

Täter des Wortes sein.

(Ergänzung: Siehe zum Thema „Groll“ auch diesen Beitrag.)

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