Wer den ersten Schritt in der englischen Originalfassung des Blauen Buches liest, wird feststellen, dass er in der Vergangenheitsform geschrieben ist.
We admitted we were powerless over alcohol / lust…
In deutschen Übersetzungen wird diese Vergangenheitsform meistens etwas unentschlossen übersetzt mit
Wir gaben zu, daß wir der Lüsternheit gegenüber machtlos sind…
Schließlich sind wir der Lüsternheit gegenüber doch machtlos, oder?
Ja und nein.
Ja, wenn wir sie zu uns nehmen durch unsere Augen, oder in unserem Kopf anfangen, lüsterne Filme zu drehen… Dann sind wir sofort wieder machtlos. Das süchtige Verlangen schlägt zu, alle Kontrollschwüre gehen den Bach herunter und wir hängen wieder „drin“. Das sexuelle Ausagieren folgt beim Sexsüchtigen der Lüsternheit zwangsläufig. Diese Folge ist nicht nur eine schlechte Gewohnheit, die wir uns abtrainieren könnten, sondern sie ist auch körperlich „eingeprägt“. Wir haben die Fähigkeit verloren, „kontrolliert lüstern“ zu sein. „Ein Glas ist zu viel und tausend sind nicht genug,“ wie die Anonymen Alkoholiker sagen.
Die Antwortet lautet aber auch „nein“: Wir sind der Lüsternheit gegenüber dann nicht machtlos, wenn wir sie nicht wieder in unsere Seele hineinlassen. Das Weiße Buch sagt das ganz klar:
SA offers sexual sobriety, progressive victory over lust, and recovery.
White Book, p. 185
Mit Hilfe der Anonymen Sexaholiker erlangen wir sexuelle Trockenheit, den fortschreitenden Sieg über die Lüsternheit, und Genesung.
Ich muss mir also keineswegs ständig sagen, dass ich der Lüsternheit gegenüber machtlos bin. Ich bin auf dem spirituellen Genesungsweg und nutze die Werkzeuge, die das Programm bereithält. So kann ich beim Sieg über die Lüsternheit Fortschritte machen.
Ein ganz kleines, praktisches Beispiel aus meinem Leben ist, dass ich mich heute wieder in ein Cafe setzen und einen Kaffee trinken kann. Das kam für einen langen Zeitraum zu Beginn der Genesung – ich schätze die ersten zwei Jahre – für mich nicht in Betracht. Zu schwierig erschien es mir, die anwesenden Frauen nicht zu scannen. Zu wenig traute ich mir selbst – und konnte mir auch (noch) nicht trauen. Heute kann ich mich entscheiden, in ein Cafe zu gehen. Sollte ich merken, dass ich innerlich nicht stabil bin, kann ich es auch lassen oder jederzeit wieder gehen. Das ist eine zurückgewonnene Freiheit und ein Fortschritt im Sieg über die Lüsternheit.
Ich bin mir bewusst, dass der Gedanke „Ich erlebe einen fortschreitenden Sieg über die Lüsternheit“ bei mir als Sexsüchtigem schnell zu der Wahnvorstellung führen kann, ich könne wieder kontrolliert lüstern sein. „Was ist schon dabei, diese Frau anzuschauen!“ Der alte Selbstbetrug kann wieder Platz greifen. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass ich diesen fortschreitenden Sieg schon erlebt habe. Es liegt an meiner Ehrlichkeit, mir über meinen Zustand nichts vorzumachen, und an meiner Bereitschaft, weiter fest im Programm zu bleiben, dass dieser Umschlag von der Wahrheit in die Lüge nicht stattfindet. Außerdem hilft mir mein Sponsor, der mich darauf anspricht, wenn er bei mir Unklarheiten oder Unwahrheiten sieht, und die regelmäßige Meetingteilnahme.
Und während ich dies schreibe, gehen mir die Begriffe Demut und Dankbarkeit durch den Kopf.
…Demut – ein oft mißverstandenes Wort. Denjenigen, die durch das AA-Programm schon Fortschritte gemacht haben, bedeutet Demut die klare Erkenntnis dessen, was und wer sie sind, vebunden mit dem ehrlichen Versuch, das zu werden, was sie sein könnten.
Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen, S. 55 (zum fünften Schritt)
Sobald ich aus der Demut heraus bin, bin ich im Ego. Ich verliere die Verbindung zu den helfenden Mächten. Die Selbsttäuschung führt zur Lüge auch auf dem Gebiet der Lüsternheit.
Um in diesem, auf Entwicklung ausgerichteten, Sinne demütig zu werden und zu bleiben, empfiehlt das Programm die Inventur, das Zugeben und das Vorangehen mit der eigenen Schwäche, Gebet und Besinnung und Sponsorschaft.
Und der andere „Schutzmantel“ ist die Dankbarkeit. Ich rufe mir mit Hilfe einer Dankbarkeitsliste alle die Dinge in Erinnerung, für die ich dankbar bin. Sollte ich gerade keine Dankbarkeit empfinden, kann ich die Dinge aufschreiben, für die ich dankbar sein kann. Es gibt gar nichts, für das Du dankbar bist? Wie wäre es damit, so anzufangen:
Ich bin dankbar, dass ich lebe. Ich bin dankbar, dass ich heute trocken sein kann. Ich bin dankbar, dass ich Arme, Hände, Beine und Füße nutzen kann. Ich bin dankbar, dass ich Essen, Kleidung und Wohnung habe. Ich bin dankbar, dass ich im Frieden in xy lebe. …
Bei regelmäßigem Schreiben wird sich die Wahrnehmung zum Positiven verändern. Denn positives Denken und Fühlen folgt gesunden Handlungen nach (nicht umgekehrt, deshalb kann ich mich auch nicht „gesunddenken“ oder mir „gute Gefühle“ mental verordnen). Aber das Schreiben einer Dankbarkeitsliste ist eine wirksame Realität, die Denken und Fühlen verändert.
„Ich versuche ernsthaft, mich an die Wahrheit zu halten, daß ein volles und dankbares Herz sich nichts vormacht. Wer voller Dankbarkeit ist, dessen Herzschlag strömt nur Liebe aus, die schönste Empfindung, die wir kennen.“
Bill W., einer der Gründer von AA, in einem Grapevine-Artikel 1962, abgedruckt in: Wie Bill es sieht, Nr. 37
In Momenten der Ehrlichkeit und Dankbarkeit nehme ich keine Zuflucht in der Lüsternheit. Ich lasse auftauchende Bilder, Worte und Eindrücke los, gebe sie ab an Gott, wie ich ihn verstehe, und darf sagen: Ich war machtlos. Jetzt habe ich einen Weg der Genesung gefunden.