Der Vertreter

Eine AA-Oldtimerin verglich die Sucht einmal mit einem Vertreter, und ich konnte mich sehr gut mit ihrer Geschichte identifizieren.

Dieser Vertreter kam über viele Jahre regelmäßig vorbei, und ich kaufte ihm stets seine Sucht-Waren ab. Selbst wenn ich ihm zu Beginn seines Besuchs noch erzählte, dass es jetzt genug sei und er heute wirklich nichts bei mir loswerden könne, war doch klar, dass ich nach einer gewissen, meist kurzen, Zeit des Lamentierens wieder zugreifen würde. In den letzten Jahren beleidigte ich den Vertreter sogar manchmal, weinte oder zeterte, drohte ihm. Aber schließlich kaufte ich voller Scham über mein Versagen wieder ein, zu einem immer höheren Preis. Ganz zum Schluss lag ist fast den ganzen Tag auf der Lauer und wartete auf ihn. Wenn er dann kam, forderte ich mehr und mehr und er schaffte es gerne herbei. Bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Der Preis war viel zu hoch, aber alleine der Gedanke daran, dass die Versorgung mit Nachschub, handele es sich um Pornografie, Selbstbefriedigung, Prostituierte, anonyme Sexkontakte oder anderes – der Gedanke daran, dass der Vertreter ausbleiben und die Versorgung stocken könnte, war genauso wenig zu ertragen, wie die Aussicht, dass es immer so weitergehen und vermutlich sich sogar weiter steigern würde. Das Spiel war aus. Der Vertreter bestimmte, was ich wann zu welchem Preis kaufte. Ich war ihm restlos ausgeliefert.

In diesem Zustand, an diesem Tiefpunkt kam ich zu den Anonymen Sexaholikern (AS). AS ist eine Gemeinschaft aus autonomen Gruppen, deren Hauptzweck es ist, sexuell nüchtern zu bleiben und anderen Sexsüchtigen zur Nüchternheit zu verhelfen. AS ist unabhängig und verhält sich neutral in religiöser, medizinischer oder politischer Hinsicht. Dort lernte ich das von den Anonymen Alkoholikern (AA) übernommene Zwölf-Schritte-Programm kennen. Es handelt sich dabei um ein spirituelles Tu-Programm. Spirituell ist es insoweit, als es mir das Werkzeug dafür liefert, die eigenen Haltungen und Einstellungen so zu verändern, dass ich auch ohne meine „Droge“ Lüsternheit zufrieden, voller Lebensfreude und frei leben kann.

Zurück zu dem Vertreter:

Ich ließ ihn also nicht mehr ins Haus. Da ich seine Überzeugungskraft kannte, öffnete ich auch nicht, wenn er am Anfang Sturm klingelte. Diese Zeit erschien mir sehr anstrengend, denn er belagerte geradezu mein Haus, tauchte regelmäßig wie aus dem Nichts auf und rannte mit offenem Musterkoffer hinter mir her. Aber ich blieb klar, öffnete nach wie vor nicht, ließ ihn stehen und ging meinen neuen Weg der Genesung. Mit der Zeit wurden seine Besuche seltener. Ab und an versucht er es noch, schließlich war ich sein bester Kunde (er vertraute mir an, dass er ausschließlich von mir seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte). Würde ich nur ein Mal nachgeben, ginge es wieder los. Aber ich gab nicht nach. Einen Tag nach dem anderen bleibe ich trocken, immer nur für heute. In meiner Trockenheit fand ich ein neues Lebenskonzept, ich heiratete sogar und lernte, echte und ehrliche Begegnungen mit anderen Menschen zu haben. AS und das Zwölf-Schritte-Programm gaben mir die Werkzeuge hierfür.

Sexsucht ist nicht minder schwer als Alkohol- oder Drogensucht. Sie zerstört den Betroffenen, Ehen, Familien und manchmal werden durch sie auch Außenstehende zu Opfern. Sie nährt eine Industrie, verseucht die Seelen der Beteiligten und bringt Elend, Krankheit und Tod. Bisher habe ich drei Suizide in der Gemeinschaft erlebt, von Freunden, die aus der Dunkelheit der Sucht nicht herauskommen konnten. Zugleich erlebe ich in der Gemeinschaft Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Höflichkeit, Humor und Freude, wie ich sie vorher nie kannte.

In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass Trockenheit eine kontinuierliche Genesungsarbeit voraussetzt. Die Trockenheit muss an die erste Stelle gesetzt werden, vor den Partner, die Arbeit, Ansehen und andere Aspekte des Lebens. Setzte ich sie nicht an die erste Stelle, würde ich all das verlieren, was mir wichtiger erschien. Für mich wurde Bestandteil meiner persönlichen Genesungsarbeit das Schreiben. Ich freue mich, wenn Sie mich auf diesem Weg begleiten.

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