Der andere Mensch – ein Kosmos

Früher war ich verwundert, wenn ich bemerkte, dass mich anscheinend jemand mochte. Als z.B. eine Freundin mit mir in den Urlaub fuhr. Wieso mit mir? Da musste es ihr schon ziemlich schlecht gehen, wenn sie mit mir wegfuhr.

Heute ist mir bewusst, dass auch diese Verwunderung Ausdruck meiner allgegenwärtigen Ich-Bezogenheit war. In meiner Welt gab es nur mein Denken, Fühlen und Wollen. Wenn ich einen Raum verließ, war es so, als verschwände hinter mir der Raum und die Menschen, die darin waren. Es gab kaum eine Welt außer meiner eigenen, engen, ängstlichen, süchtigen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass der Andere ein selbständiger Mensch mit eigenen Gefühlen, Gedanken und einem Willen war, genauso wie ich.

Das hatte die paradoxe Folge, dass ich mir auch nicht vorstellen konnte, dass andere mich mochten und gerne ihre Zeit mit mir verbrachten. Schließlich mochte ich mich nicht und verbrachte (nüchtern) auch nicht gerne Zeit mit mir. Wie sollte es bei Ihnen anders sein? Überall und immerzu: Ich, ich, ich.

Heute bemühe ich mich, mir immer wieder bewusst zu machen, dass mein Gegenüber ein anderer, selbständiger Mensch ist. Ein Kosmos mit eigenen Gefühlen, Vorstellungen, Plänen, Vorlieben, Abneigungen, Wünschen, Ängsten… Darin ist er wie ich, aber selbständig und unabhängig von mir. Wenn ich den Raum verlasse, lebt er sein Leben weiter.

Er ist er und ich bin ich. In der nicht-süchtigen Begegnung mit ihm kann Genesung entstehen, Freude, Glück und Leichtigkeit. In ihm, dem kleinen Kosmos, kann ich den großen Kosmos und die Dimensionen unseres Mensch-Seins erleben.

2 Kommentare

Bernd 14. Dezember 2019 Antworten

In Bayern sagt man: „Ich, mich, meiner, mir – Gott segne alle vier“, dazu :-). Ich kann mich total damit identifizieren. In der Zeit der aktiven Sucht, war ich genauso verwundert, dass Menschen mir vertrauten oder mich gar mochten.
Durch die 12 Schritte durfte ich einen Blick in den Spiegel werfen. Ich durfte erkennen, dass es in mir einen Unterschied (oder zwei Persönlichkeiten) gibt; a) derjenige der krank ist und der Hilfe benötigt (und bekam, als ich danach fragte) und b) derjenige in mir, der im Innersten noch heil und unverletzt war.

Ich durfte in der Genesung und mit Gottes Hilfe erleben, dass es mir (ohne Sucht) gut gehen (darf) kann und dass ich Mitgefühl erlebe – für mich – und dadurch auch für Andere.

Ja – ich erlebte, dass es Andere gibt, denen ich auch wünsche, dass es Ihnen gut gehe und dass sie Mitgefühl (auch von mir) erfahren.

Mein Weg aus der Sexsucht 15. Dezember 2019 Antworten

Dann sind wir ja schon acht;-)
Lieber Bernd, vielen Dank für Deinen Kommentar. Wenn ich in mir ein „Ziehen“ Richtung Lüsterheit spüre, da ist dieser kranke Teil ganz real. Aber es gibt ja auch dieses „Ich“, dass wahrnimmt, wie es um mich steht. Und das das Ziehen loslassen kann. Was für ein Glück.

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