Der alte Knochenmann und die Luft, die trägt

In meinem alten Leben hatten sich meine Charakterfehler und Charaktereigenschaften wie zu einem festen Knochenbau verwachsen.

Das Grundgerüst bildeten Angst und Sorge. Weitere Knochen waren Perfektionismus, Schwarz-Weiß-Denken, Grandiosity, Selbstmitleid, eine be- und verurteilende Haltung, Selbstgerechtigkeit uvm. Die Nutzung dieses  Knochenbaus war mit vielen Schmerzen verbunden. Gleichzeitig war ich aber auch süchtig nach Aufregung, und die lieferte er mir. Außerdem bildete er ein mich stützendes und in seiner Dysfuktionalität bekanntes und verlässliches System. Das Leben in der Enge war mir vertraut, ich war es gewohnt und es war berechenbar.

In meinen Inventuren habe ich diese „Anatomie“ meiner Charakterdefekte erforscht und offengelegt. Jetzt muss der alte Knochenbau verwandelt werden.

Wie ist es heute? Ein Beispiel: Ich ärgere mich über jemanden. Meine früheren Reaktionen: Angst, Wut, Ablehnung uvm. Meine heutige Reaktion: Angst, Wut … Ablehnung – halt Stopp! – Was ist los? Ich spreche darüber. Ich schreibe Inventur: Was ist mein Anteil? Was sind meine Fehler? Rege ich mich über etwas auf, was ich selber auch tue, getan habe oder nur mir verbiete, zu tun, obwohl ich es gerne täte?

Wenn ich eine solche Inventur geschrieben habe, kann ich nicht weitermachen, wie früher. Ich kann mich nicht einfach auf meinen alten Knochenmann stützen. Da ist zwar vielleicht noch die Angst, der Ärger – da ist aber auch die bessere (Er-)Kenntnis.

Manchmal gelingt es früh und ohne größere Schwierigkeiten, aus dem Groll auszusteigen. Manchmal bleibe ich eine Zeitlang drin und manchmal länger. In solchen hartnäckigen Fällen kommt die Sehnsucht nach Erleichterung, nach „Erlösung“. Manchmal bietet sich mir die Sucht an, als vermeintlicher Weg, den Schmerz aushalten zu können. Gäbe ich diesem Werben der Sucht nach, würde das bedeuten, einem erbärmlichen Verfall entgegenzugehen. Denn tief im Inneren weiß ich, dass das alte Gerüst nicht mehr trägt.

Der neue Weg: Ich vertraue mich dem Schicksal an und frage mich: Was ist in dieser Situation die richtige Haltung und die richtige Handlung? Ich bitte darum, das zu sehen und der Einsicht folgen zu können. Ich werde die erforderliche Hilfe bekommen und es gelten zwei Sätze:

  • Das Schicksal legt mir nie mehr auf, als ich tragen kann.
  • Ich erhalte die Kraft, die ich brauche, (erst) in dem Moment, wenn ich sie brauche.

Das setzt Vertrauen voraus, zu handeln, obwohl die Angst vor dem Ungewohnten und Ungeübten so groß ist. Da hilft mir der AA-Slogan:

  • Mut ist Angst, die gebetet hat.

Es gibt einen wunderschönen, kurzen Gedichtssatz von Hilde Domin aus dem Gedichtsband „Nur eine Rose als Stütze“:

Ich setzte den Fuß in die Luft,
und sie trug.

Es ist wirklich jedes mal ein kurzes Sterben, wenn ich den Schritt in die Genesung tue, wenn ich der Situation gemäß handle, statt in der gewohnten Enge, Anspannung und den gewohnten Mustern zu bleiben. Aber jedes mal, wenn ich da durchgegangen bin, bin ich verwandelt wach geworden. Ins Leben hinein erwacht.

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