Gestern las ich in einem autobiographischen Roman, wie der Ich-Erzähler im Zweiten Weltkrieg Zeuge von furchtbarer Gewalt wird und für sich zu dem Schluss kommt, dass Gott tot ist – dass er mit den gequälten und getöteten Menschen getötet worden sei.
Das hat mich daran erinnert, wie schwer ich es zu Beginn meines Genesungsweges mit jeder Erwähnung von „Gott“ in der Literatur der Anonymen Alkoholiker (AA) hatte. Ich ging damals davon aus, dass es für mich keinen Zugang zu einem „Gott“ geben könne. Und nun wurde ich mit diesem Begriff konfrontiert!
Zum Glück heißt es an den entscheidenden Stellen: Gott wie wir ihn verstehen. So wusste ich, dass mir bei AA nichts aufgezwungen wird.
Aber selbst mit „Gott wie ich ihn verstehe“ hatte ich es zu Beginn schwer. Ich konnte mich dem Thema vor allem über die anderen beiden Begriffe nähern, die bei uns verwendet werden:
- die höhere Macht oder höhere Kraft („higher power“) und
- eine Kraft/ Macht, größer als wir selbst („a Power greater than ourselves“ – Schritt 2/ Step 2).
Denn mir war klar, dass ich in Bezug auf meine Sucht (den Alkohol, die Lüsternheit) absolut machtlos war. Ich hatte nicht die Kraft, die ich brauchte, um dem Ausagieren widerstehen zu können. Ich brauchte eine helfende Kraft; eine Kraft, die größer war, als ich selbst. Den Begriff „Gott“ brauchte ich hierfür zum Glück nicht.
Zunächst entschied ich mich, meine AA-Gruppe als diese Kraft anzusehen. Denn nachdem ich im Januar 2008 mein erstes Meeting besucht hatte, musste ich keinen Alkohol mehr trinken. Und Mitte 2012 kamen dann die Anonymen Sexaholiker (AS) und die Trockenheit in der Sexsucht dazu.
Heute habe ich mein Verständnis von Gott – wie ich ihn verstehe (oder nicht verstehe) gefunden. Und es ist wandlungsfähig, so wie ich wandlungsfähig geworden bin. Ja, es gibt auch Zweifel. Aber ich habe meine Wege, mit ihnen umzugehen.
Ich bin vor allem ein Fan vom Blauen Buch und, mit kleinen Abstrichen, auch von Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass es manchmal auch an der Übersetzung liegt, wenn ich mit einer Textstelle nicht klarkomme oder wenn sie mir unlogisch erscheint.
So habe ich mir die Gebete neu übersetzt und zum Teil ergänzt, wie ich es in früheren Blogbeiträgen beschrieben habe (hier zum Dritte-Schritt-Gebet und hier zum Siebte-Schritt-Gebet). Und statt „Gott“ kann man auch an jeder Stelle höhere Macht, höhere Kraft, himmlische Kräfte oder Anderes einsetzen (ein Programm-Freund spricht z.B. immer von seiner „Buddha-Natur“).
Ich möchte jedem, der Hilfe sucht, Mut machen, es mit dem Zwölf-Schritte-Programm auch dann zu versuchen, wenn Gott für ihn ein Problem oder „tot“ ist. Denn die helfenden Kräfte helfen auch, wenn man sie nicht „Gott“ nennt. Und im Laufe der Zeit kann jeder für sich entscheiden, wie er Gott versteht, wenn von „Gott, wie wir ihn verstehen“ die Rede ist. So habe ich meinen Start ins trockene Leben und schließlich sogar Gott wie ich ihn verstehe gefunden.